Wimmer’s Kommentar
Michael Wimmer bezieht in seinen Kommentaren regelmäßig Stelllung zu den neuesten Entwicklungen in Kultur, Bildung und Politik.
Ergänzt werden diese durch eigene Begegnungen und Erlebnisse im Rahmen seiner Tätigkeit als Dozent, Autor und Berater.
Das Ende der alten Kunst ist der Anfang einer neuen Kunst
Unter dem Eindruck der zu Ende gehenden documenta 15 veröffentlichte der Philosoph Konrad Liessmann jüngst einen Kommentar zum „Ende der Kunst“ in der Wiener Zeitung. Darin kritisiert er das Ende jeglicher formaler Ansprüche der nicht nur in Kassel verhandelten Kunst. Stattdessen ginge es nur mehr um inhaltliche und damit politische oder moralische Kriterien, die das Prinzip der Freiheit der Kunst aushebeln würde.
Bereits zuvor war der Künstler und Kunstphilosoph Bazon Brock in seiner Argumentation in eine ganz ähnliche Richtung gegangen, wenn er im Setting der documenta einen Verrat individuell-künstlerischer Autor*innenschaft erkannte, die der Kunst der Kraft berauben würde, die sie braucht, um über die herrschenden kollektiven kulturellen Zwänge hinauszuweisen.
Nun besteht das Elend des diesjährigen Durchgangs der Weltkunstschau in Kassel darin, dass das handelnde Personal im Umgang mit Antisemitismus, Rassismus und Kolonialismus völlig überfordert war. Dadurch konnte dieses Ereignis auf sich darauf berufende inhaltliche Bezüge reduziert werden, eine Konstellation, auf die weite Teile des medialen Diskurses lustvoll aufgesprungen sind.
Wesentlich zu kurz kamen dabei die durchaus formal bestimmbaren Veränderungen innerhalb des Kunstfeldes. Immerhin verwies die documenta auf ein bereits weit fortgeschrittenes Ende – nein, nicht der Kunst – sondern der Repräsentation von Kunst, wie sie dem bürgerlichen Zeitalter samt seinen Autonomieansprüchen eingeschrieben war. Entsprechend groß die Kritik, dass diesmal in Kassel die wichtigen Künstler*innen und ihre Positionen nicht präsentiert wurden. Sondern der Fokus auf die Ermöglichung künstlerischer Prozesse gerichtet war, die dazu angetan waren, herrschende Vorstellungen davon, was Kunst ist und was nicht, über den Haufen zu werfen.
Vorrangiges Ziel der Kurator*innen war nicht, Kunst zu zeigen, sondern diese miteinander entstehen zu lassen. Das formale Anliegen also bestand nicht (mehr) darin, sich als Künstler*in von allen anderen abzugrenzen, um Kunst zu schaffen, sondern ganz im Gegenteil, sich mit den anderen zusammen zu tun, um sich an künstlerischen Prozessen zu beteiligen.
Wenn Kunst im traditionellen Sinn, wie sie Liessmann versteht, Ausdruck des bürgerlichen Zeitalters ist, dann hat er wahrscheinlich recht, wenn diese als eine, an den Wertvorstellungen bürgerlicher Existenz gebundene Kunst vor ihrem Ende steht. Kunst als Repräsentation zur Aufrechterhaltung eines zunehmend irrationalen Kunstmarktes mag es weiter geben, ihre Relevanz wird sich zunehmend auf nostalgische Erinnerung beschränken müssen.
In dem Maß, in dem die bürgerliche Gesellschaft ihre Transformation in eine, mehr oder weniger massendemokratisch organisierte Vielfaltsgesellschaft erfährt, hat das gravierende Auswirkungen auch auf das Kunstfeld. In diesem Sinn war die documenta ein Experimentierfeld, um die einsame Figur des*r individuellen Künstlers*in durch Settings zu überwinden. Erprobt werden sollten Settings, in denen Kunst als eine Form der Kommunikation und Kooperation verstanden wird: Kunst nicht mehr für Menschen, sondern Kunst als Form der Interaktion mit Menschen ungeachtet ihrer unterschiedlichen sozialen, ideologischen, ethnischen, religiösen Zuschreibungen.
Auf dem Weg dorthin ist die documenta freilich auf halber Strecke stecken geblieben. Besucher*innen mussten zu oft den Eindruck gewinnen, in einen Workshop künstlerischer Akteur*innen („Kollektive“) zu platzen, dessen Tun ihnen als Angehörige*r einer anderen identitären Zuschreibung verschlossen blieben. Auch sie aktiv einzubeziehen und damit die bislang kategorialen Grenzen zwischen Kunstproduzent*innen und Kunstrezipient*innen nieder zu reißen, das wäre die große Aufgabe, die auf den Kunstbetrieb in einer post-bürgerlichen Ära zukommt.
Das Insistieren auf die alles übertönende Antisemitismus-Debatte ist so auch als eine Verweigerung zu verstehen, sich mit den aktuellen gesamtgesellschaftlichen und somit auch für das Kunstfeld entscheidenden Transformationsprozessen auseinanderzusetzen.
Sich darauf einzulassen, bedeutete nicht das Ende der Kunst. Vielmehr den Anfang einer Kunst, die willens ist, aus ihrem Elfenbeinturm mit sein hochelaborierten Logiken des Ein- und Ausschlusses auszubrechen und – wenn schon nicht als eine Avantgarde zu fungieren – so doch in Bezug auf das eigene künstlerische Tun zumindest zu antizipieren, was gesellschaftlich der Fall ist.