Wimmer’s Kommentar
Michael Wimmer bezieht in seinen Kommentaren regelmäßig Stelllung zu den neuesten Entwicklungen in Kultur, Bildung und Politik.
Ergänzt werden diese durch eigene Begegnungen und Erlebnisse im Rahmen seiner Tätigkeit als Dozent, Autor und Berater.
Über das Lösen von Gleichungen, Romanlektüren und den Eigenwert des Menschen
In meiner Jugend durchlebte ich eine Phase, in der ich mich jede freie Minute mit dem Lösen mathematischer Gleichungen beschäftigt habe. Es war für mich ein großes Spiel. Sukzessive bin in eine Logik eingetaucht, mit der mir die Gleichung zu einem Weltersatz wurde, ja als eine bessere Welt, in der es keine Widersprüche und keine widrigen Unvorhersehbarkeiten gibt. In der sich alles eindeutig darstellen, erklären und am Ende auch vorhersehen lässt. So wurde mir die Beschäftigung mit jeder weiteren Gleichung zur Konstruktion einer Welt, die in eine mathematische Form gebracht werden kann.
Es ist selbst für mich heute kaum mehr reproduzierbar, welche Hoffnung ich damals als Schüler einer chemischen Lehranstalt in naiver Fortschrittsgäubigkeit in die Durchrationalisierung von Welt zu setzen vermocht habe: Ihrer umfassenden Übertragbarkeit in ein mathematisches Gedankengebäude wäre wohl irgendwann auf Grund der daraus entstehenden Komplexität Grenzen gesetzt; aber grundsätzlich meinte ich den Schlüssel gefunden zu haben, die Welt mit Hilfe von mathematischen Verfahren in Zahlen bzw. Begriffen zu fassen, sie eindeutig erklären und so auch gestalten zu können.
Diese Erinnerung ist mir gekommen bei der Lektüre von Lion Feuchtwangers „Die Narrenfreiheit“, ein historischer Roman über die letzten Lebensjahre Jean-Jacques Rousseaus samt seiner widersprüchlichen Wirkungen auf die Französische Revolution. Rousseau wurde in diesem Biopic von Feuchtwanger als der große Gegenspieler von Voltaire in Position gebracht. Dieser – so die vereinfachte Darstellung – hätte sein aufklärerisches Denken darauf gerichtet, die so beängstigende Undurchschaubarkeit der Welt einer rationalistischen Rosskur zu unterwerfen, an deren Ende die Willkür von Mensch und Natur getilgt und an seine Stelle ein umfassend vernünftiger Umgang miteinander getreten sei.
Im Gegensatz dazu bestünde Rousseau – bei allem Vernunftgebrauch – auf der prinzipiellen Unbestimmbarkeit des Lebendigen und damit auch Unberechenbarkeit menschlicher Existenz. Diese sei nicht restlos aufklärbar, ganz im Gegenteil würde moderne Zivilisation viel dazu beitragen, die Essenz des Lebendigen zu unterdrücken und damit zum Verrat des ganzen Menschen beitragen.
Dies galt umso mehr, als sein Aufklärungskonzept an einem unbezweifelbaren Glauben gebunden war, wonach der Mensch in seinen Willensäußerungen im Prinzip „gut“ sei (https://blogs.fu-berlin.de/menschenbilder/2017/12/03/der-mensch-ist-von-natur-aus-gut-ich-glaube-es-nachgewiesen-zu-haben-rousseau-1755/), während Gegenspieler von ihm wie Thomas Hobbes davon ausgingen, der Mensch wäre prinzipiell „schlecht“ und müsste durch entsprechende Zwangs- bzw. Zivilisierungsmaßnahmen eingehegt werden (https://blogs.fu-berlin.de/menschenbilder/2017/11/27/thomas-hobbes-das-menschliche-leben-ist-einsam-armselig-ekelhaft-tierisch-und-kurz-hobbes-2005-s-91/ )
Ganz offensichtlich hatte ich mich mit meiner jugendlichen Gleichungsbegeisterung auf die Seite Voltaires geschlagen. Ich gebe zu, dass mich meine weiteren Lebenserfahrungen zumindest nachdenklich haben werden lassen. Und so ist an die Seite des Anspruchs bestmöglicher Aufklärung die Vorstellung des Eigensinns von Welt aber auch der menschlichen Existenz getreten. Den ich mittlerweile als von unschätzbarem Wert begreife. Zumal der Anspruch auf umfassende Durchdringung (und damit Erklärbarkeit aber auch Kontrollierbarkeit ) von Natur als selbst menschliche Konstruktion ja nicht an sich gilt sondern selbst Ausdruck der Differenz zwischen der Endlichkeit menschlicher Erfahrung und der Unendlichkeit dessen, was in ihm ist und ihn umgibt ist.
Das aber bedeutet, dass ich als eine beschränkte Existenz gelernt habe auszuhalten, dass weite Teile der Welt in mir und um mich sich nur als fremd bzw. uneinsichtig erfahren lassen. Ihr mit den Mittel einer auf umfassende Rationalität setzenden Vernunft begegnen zu wollen, muss notwendig in die Irre gehen (Die verheerenden Wirkungen modernen Fortschrittsdenkens auf eben diese Welt können ein Lied davon singen. Siehe dazu etwa: Philipp Blom „Die Unterwerfung – Anfang und Ende der menschlichen Herrschaft über die Natur“ https://www.perlentaucher.de/buch/philipp-blom/die-unterwerfung.html). Umso wichtiger, auf die eigene Lebendigkeit zu vertrauen und von der Fähigkeit der Intuition Gebrauch zu machen, auch wenn sie sich der eigenen Unaufklärbarkeit bewusst ist. Ohne deswegen gleich einem blinden Irrationalismus zu verfallen. Umso mehr als uns – bei aller Einsicht in die menschliche Unzulänglichkeit – niemand die Verantwortung für die eigene Weltwahrnehmung abnimmt.
Ob der Mensch prinzipiell „gut“ oder prinzipiell „schlecht“, ob wir eher Rousseau oder Hobbes Glauben schenken sollen, ist dabei eigentlich irrelevant, weil es sich dabei um eine Glaubens- bzw. Haltungsfrage handelt, die selbst mit rationalen Mitteln nicht beantwortet werden kann.
Mehr Sorge könnte uns bereiten, wenn mit dem aktuellen Hype um Künstliche Intelligenz samt ihren algorithmischen Gleichungsmethoden noch einmal das Bild hochkommt, in dem sich der Mensch in einer mathematischen Gestalt früher oder später auflösen wird. Mehr, dass der Mensch in seiner digitalen Entsprechung die von der klassischen Aufklärung unauflösbaren Anteile zum Verschwinden zu bringen vermag, um letztendlich in eine perfekte, weil umfassend beschreib- und so auch vorhersagbare Form gebracht werden kann.
Angesichts einer solchen Ideologisierung des technologischen Fortschritts halte ich es fast schon fast für ein Muss, mit Rousseau bei allem Willen zur Aufklärung die Unauslotbarkeit des Lebendigen nicht zu verraten. Um mit ihm auf das zu bestehen, was dem Menschen gerade in seiner Beschränktheit ausmacht: Seine Teilhaftigkeit UND Fremdheit in der Natur als eine endliche und fehlbare Existenz, die von bewußtem UND unbewußtem Handeln gelenkt wird. Und damit das Beharren auf seinen unhintergehbaren Eigenwert als eine Kulturleistung.
Und so werden die Gleichungen meiner Jugend zu einer Suchbewegung, die mir eine Welt aufgestoßen haben, in der es notwendig ist, auf immer neue Weise Rationalität und Intuition in ein Gleichgewicht zu bringen, zumal das Ziel nicht ist, im Versuch, die Welt, so wie wir sie erfahren vollständig zu erklären (und sich damit ihrer zu bemächtigen) sondern in ihr ein gelingendes Leben zu führen.
Dass das mit dem Gegensatz von Voltaire und Rousseau so eine Sache ist, beweist gerade die Aufführung von „Candide“ (https://www.die-deutsche-buehne.de/kritiken/da-steppt-der-baer/), eine Komposition von Leonard Bernstein auf einer sarkastischen Romanvorlage von Voltaires „Candide oder der Optimismus“, in dem der Held alles andere als rationalen Umständen ausgesetzt wird. „Candid“ bedeutet übrigens: offen, ehrlich.