Es gibt besondere Glückserlebnisse bei der Lektüre. Ein solches ermöglicht der britische Shakespeare-Forscher Stephen Greenblatt, der sich in dem Essay auf die Suche nach Bezügen zur Erzählung von Adam und Eva quer durch die (westliche) Kulturgeschichte gemacht hat: https://www.perlentaucher.de/buch/stephen-greenblatt/die-geschichte-von-adam-und-eva.html
Mir war davor nicht bewußt, welch eminenten Einfluss die Story vom Leben und der Vertreibung der behauptet ersten Menschen aus dem Paradies der beiden auf unser aller Gottesvorstellungen, Moral, Geschlechterbeziehungen, Schamgefühle und nicht zuletzt Machtverhältnisse bis heute auszuüben vermag.
Vor dem allem aber macht Greenblatt deutlich, dass ganz offensichtlich das Mängelwesen Mensch existentiell darauf verwiesen ist, sich eine Geschichte über seine Herkunft zu erzählen, um überhaupt in der Welt bestehen zu können. Und das der Mythos rund um Adam und Eva beileibe nicht der einzige gewesen ist, sondern immer wieder in scharfer Konkurrenz (etwa dem Gilgamesch-Epos) zu anderen Erzählungen gestanden ist, um schließlich in der christlichen Welt hegemonial zu werden. Und sei es um den Preis von Bücherverbrennungen, Ermordungen oder Exilierungen anders Denkender
Und so zeichnet Greenblatt das Bemühen einzelner Leitfiguren wie Augustinus nach, die alles daran gesetzt haben, die Geschichte wörtlich zu nehmen. Und doch all die damit verbundenen Widersprüche, wie etwa ein allgütiger und allwissender Gott es zulassen konnte, das Essen vom Baum der Erkenntnis als Ursünde in die Welt zu bringen, in die Geschichte zu integrieren.
Besonders angetan hat es ihm John Milton, der mit “Paradise Lost” in der Nachzeit von Oliver Chromwell versucht hat, eine alternative Interpretation zu liefern, um damit einen Prozess der Allegorisierung einzuleiten, der bis heute – die Erkenntnisse von Charles Darwin hin oder her – nicht an ihr Ende gekommen ist.
Dass die Geschichte rund um Adam und Eva auch massive Konsequenzen im Zuge der Kolonialisierung der Welt nach sich gezogen hat, macht die Zuschreibung des Schamgefühls als zentrales Bestimmungsstück des Menschseins nach dem großen Sündenfall deutlich. Immerhin trafen die Konsquisatoren in der Neuen Welt auf Menschen, denen scheinbar jegliches Schamgefühl abging. Um ihnen damit auch gleich das Menschsein abzusprechen.
Es versteht sich fast von selbst, dass sich Greenblatt auch intensiv mit der künstlerischen Bearbeitung des Mythos befasst, um entlang von Albrecht Dürer über Michelangelo bis zu Max Beckmann die unterschiedlichen sinn-stiftenden Interpretationen deutlich zu machen.
Die gegenwärtige Hausse von AI, die sich immer mehr menschliche Kompetenzen aneignet, zwingt förmlich dazu, noch einmal tiefer darüber nachzudenken, was das Menschsein ausmacht.
Wie das gehen kann, das zeigt Greenblatt anhand von Adam und Eva vor. Wer wissen will, woraus die Eigentümlichkeit des Menschen diesseits und jenseits des Christentums in den letzten 2 000 Jahren komponiert worden ist, der sollte Greenblatt lesen. Und gleich drauf auch noch “Paradise Lost” von John Milton.