Wimmer’s Kommentar
Michael Wimmer bezieht in seinen Kommentaren regelmäßig Stelllung zu den neuesten Entwicklungen in Kultur, Bildung und Politik.
Ergänzt werden diese durch eigene Begegnungen und Erlebnisse im Rahmen seiner Tätigkeit als Dozent, Autor und Berater.
30/08/2023
“Der Mythos von Sisyphos” von Albert Camus – eine Relektüre
Warum angesichts dessen was ist nicht Selbstmord begehen? Es gibt wahrscheinlich keinen besseren Zeitpunkt als heute, um sich nochmals mit diesem Text aus dem Jahr 1942 des französischen Nobelpreisträgers über das Absurde zu beschäftigen.
Der Text ist in seinem ebenso philosophischen wie poetischen Anspruch nicht leicht zu fassen. Und verdeutlicht doch noch einmal eine Sollbruchstelle der aktuellen historischen Situation, die hinter der Veroberflächlichung der herrschenden Verkehrsformen zu verschwinden droht.
Seine These, so ich sie verstanden habe, läuft auf eine unhintergehbare Differenz zwischen Mensch und Welt hinaus. Diese besteht darin, dass der Mensch – versehen mit einem zusätzlichen Schub durch die europäische Aufklärung – seine Existenz auf der Rationalisierbarkeit (und damit zumindest Erklärbarkeit) seiner Lebensverhältnisse begründet. Ihm gegenüber aber steht eine (innere und äußere) Welt gegenüber, die in ihrer Unauslotbarkeit als prinzipiell irrational erkannt werden will.
Daraus entsteht eine existentielle Fremdheit, deren Bewältigung in zwei Richtungen fehlschlagen kann: Einerseits im Versuch, immer vebissener die Rationalisierung von Welt vorantreiben (und damit zu hoffen, sie sich doch noch untertan und damit integrierbar zu machen). Oder aber sich der eigenen Irrationalität zu ergeben (und damit die Errungenschaften bisheriger Rationalisierung preiszugeben (Wissenschaftsfeindlichkeit, Entdemokratisierung,….), um sich statt dessen blinden Machtansprüchen des jeweils aktell Stärkeren anheimzugeben).
Das, was Camus` Überlegungen so heutig und zugleich ambitioniert machen, das ist der Anspruch, die kategoriale Differenz zwischen Mensch und Welt aushalten zu lernen (und diese nicht versuchen, durch Religion und andere Jenseitshoffnungen zuzukleistern). Und sich damit zu begnügen, zu punktuellen Vereinbarungen über die bestehenden Abründe hinweg zu kommen.
Sich damit als eine endliche Existenz zu begreifen, die in eine unendliche Welt geworfen worden ist, ohne Aussicht, diese jemals “ganz” erfahren geschweige denn nachhaltig beeinflussen zu können.
Das Revolutionäre an Camus` Denken besteht nun nicht darin, sich einfach dreinzufinden und sich den Verhältnissen zu ergeben. Sondern im Aufbegehren, im “Trotzem” und im “Gerade Deswegen” den eigentlichen Grund für ein individuell und kollektiv sinnstiftendes Leben auszumachen.
Diesem Anspruch folgend kann ich im Moment nur wenige Haltegriffe in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verfasstheit finden, die Menschen motivieren würden, sich dieser ihrer Ausgesetztheit zu stellen.
Und damit das Unmögliche aushalten, ja – als Ausdruck von Freiheit – wert zu schätzen, was menschliches Leben ist: Der Versuch, mit der Absurdität der eigenen Bemühungen als Ausdruck der eigenen Endlichkeit zurande zu kommen. Vielleicht die zentrale kulturelle Leistung in der aktuellen historischen Phase überhaupt. Weil die unhinergehbare Voraussetzung, sich als Mensch gegenüber der Welt in Beziehung zu setzen. Und nicht Selbstmord zu begehen.
https://www.getabstract.com/de/zusammenfassung/der-mythos-des-sisyphos/7264