Wimmer’s Kommentar
Michael Wimmer bezieht in seinen Kommentaren regelmäßig Stelllung zu den neuesten Entwicklungen in Kultur, Bildung und Politik.
Ergänzt werden diese durch eigene Begegnungen und Erlebnisse im Rahmen seiner Tätigkeit als Dozent, Autor und Berater.
In Erwartung eines persönlichen “Kulturereignisses” – Über das Feiern und das Älterwerden. Und darüber, was noch zu tun ist.
Geburtstage sind eine gute Gelegenheit, noch einmal über sich nachzudenken. Um sich zu versichern, wo wir stehen im Leben. Das wird mit der Anzahl der Jahre nicht einfacher, dafür aber umso wichtiger, wie mir scheint. Als 73jähriger wird mir noch einmal bewusst, in welch privilegierte historische Phase ich hineingeboren worden bin. Im Vergleich zu allen früheren Generationen genieße ich die vielfältigen Errungenschaften moderner Gesellschaften. Ich fühle mich ungebrochen gesund, denk- und handlungsfähig und kann jede Gefühlsregung als das nehmen, was sie ist: Ein unmittelbarer Ausdruck meines Lebens. Wie außerordentlich es ist, dass ich meine bisherige Lebenszeit in einer befriedeten Weltgegend verbringen durfte, wird mir täglich aufs Neue vorgeführt, wenn mich Medien mit der ganzen Brachialität von Naturerscheinungen, aber auch mit der untilgbaren menschlichen Zerstörungswut in anderen Weltgegenden konfrontieren.
Mein Vater hat dem Alter gegenüber eine sehr pragmatische Haltung entwickelt: „Ich hab genug in meinem Leben gearbeitet“, meinte er am Ende seiner beruflichen Laufbahn, um sich schon bald danach in seiner Demenz einzurichten. Wenn ich an ihn denke, dann ist mir der Wunsch, das Leben fortan nur mehr in konsumistischer Absicht verstreichen zu lassen nur zu vertraut. Und auch die Schmerzen, die er dabei seiner Umgebung zugefügt hat.
Dabei merke ich, dass ich mit seiner Selbstbeschränkung nicht mitkann; dass mir das zu wenig ist. Sei es drum, dass mir meine privilegierte Position den Auftrag auferlegt, zumindest ein wenig von dem zurückzugeben, was mir (völlig unverdient) geschenkt worden ist. Mehr noch aber lässt eine weitgehend aufs Konsumieren reduzierte Haltung meine Charakteristik nicht zu, ganz kreatürlich. Zu laut schreit ein wesentlicher Teil von mir zu laut danach, mich damit nicht zufrieden zu geben.
Unerbittlich fordert dieser Teil, mich noch einmal um mein Eingemachtes zu bemühen, um das, was mich ausmacht, das was ich als Unfertiges mein bisheriges Leben herumgetragen und wohl auch immer wieder erfolgreich verdrängt habe. Um mich darauf hinzuweisen, dass ich in dieser langen Zeit ja viele positive ebenso wie negative Erfahrungen gesammelt habe, die davon erzählen, dass ich mich nicht habe unterkriegen lassen. Weil mich meine widersprüchliche Ausstattung immerhin befähigt hat, einer Menge unerwarteter und ungewollter Widrigkeiten standzuhalten, aber auch ebenso unerwartete Erfolge und Glücksmomente zu erfahren, insgesamt: mich zu bewähren.
Und so entsteht das Bild vom Kreis. Von einem Kreis, der mit meinen frühkindlichen Erfahrungen begonnen hat und mich mit der von meiner Umgebung vermittelten Ausstattung durchs Leben gehen hat lasen, um mich mit den mir eigenen Möglichkeiten und Grenzen von Welterfahrung auszustatten, die mich zu dem gemacht haben, der ich heute bin.
Und jetzt, so scheint mir, ist eine gute Gelegenheit, noch einmal an den Anfang zurückzublicken und die entscheidenden Prägungen von damals noch einmal auf mich wirken zu lassen. Nicht mehr zu versuchen, vor allem die weniger erfreulichen Aspekte mit Aktivismus zuzudecken und damit womöglich die wichtigsten Teile des Lebens zu vermeiden. Sondern noch einmal genau hinzuschauen. Und mich mir ohne Beschönigung, und sei es am Abgrund der Existenz, auszusetzen.
Mir ist, als wäre das eine sehr lohnende Aufgabe im Alter. Sei es, noch einmal ganz neue, und sei es irritierende oder gar schmerzhafte Erfahrungen zu machen, die mich in der Welt intensiver erfahren lassen als das im Vollzug liebgewordener Routinen möglich wäre. Oder sei es, im Aussetzen gegenüber dem, was und wie ich geworden bin, den Sinn zu erkennen, der in meinem Leben liegt.
Dieser Sinn, so vermute ich, will am Ende gerade, wenn es ums Eingemachte geht, nicht nur ausgesprochen, er will empfunden werden. Um mit dieser sinn-lichen Selbsterfahrung das Leben ordentlich fertig machen zu können, also am Ende einverstanden zu sein mit dem, was war. Und was nicht war. Und dankbar sein zu können gegenüber all denen gegenüber, die mein Leben mitgestaltet, beeinflusst, jedenfalls vielfältiger und reicher gemacht haben. Und ich doch die Verantwortung für mich selbst wahrgenommen habe. Und sie nicht jemand anderem, und sei es dem Herrgott zugeschoben habe.
Dass mich mir besonders an Herz gewachsene Menschen in dieser Absicht, wenn auch ungewollt bestärken, gehört zu den unerwarteten Geschenken im Leben.