Wimmer’s Kommentar
Michael Wimmer bezieht in seinen Kommentaren regelmäßig Stelllung zu den neuesten Entwicklungen in Kultur, Bildung und Politik.
Ergänzt werden diese durch eigene Begegnungen und Erlebnisse im Rahmen seiner Tätigkeit als Dozent, Autor und Berater.
17/01/2024
Jean-Jacques Rousseau im Widerspruch zwischen Emanzipation und Totalitarismus
Durch Zufall bin ich zuletzt auf Lion Feuchtwangers “Biopic” “Narrenweisheit oder Tod und Verklärung des Jean-Jacques Rousseau” gestoßen. ( https://www.buecher.de/…/produ…/detail/prod_id/05723736/ ).
Mir war zuvor nicht klar, welch eminenten Einfluss Rousseau auf die Französische Revolution gehabt hat. Für mich war der schweizerisch-französische Philosoph mit seinem Roman “Émile” vor allem ein Vorreiter einer Erziehungslehre, die darauf hinausläuft, den jungen Menschen möglichst unbeeinflusst aus seinen eigenen Potentialen zu sich kommen zu lassen ( Wir erinnern uns an Erwin Wagenhofers Film “Das Alphabet” mit der Generalaussage, es genüge, die Knospe solange zu gießen, bis eine prächtige Blume von selbst entsteht https://educult.at/…/alphabet-der-kuenstler-als…/ )
Und jetzt erfahre ich mit Feuchtwanger, dass ausgerechnet Rousseau Robbespierre die Argumentationsgrundlagen für die Etablierung von “La Terreur” zur Durchsetzung eines von ihm theoretisch entwickelten und von Robbespierre praktisch repräsentierten Volonté Générale geliefert hat.
Als großer Gegenspieler zu Voltaire und den anderen Enzyklopädisten, denen im Zuge der Aufklärung kaltes und den ganzen Menschen negierendes Verstandesdenken zugeschrieben wurde, vermochte sich Rousseau dauerhaft als Bewahrer einer nicht beliebig bildbaren Naturhaftigkeit des Menschen positionieren, der mit schierer Rationalität nicht beizukommen sei.
Feuchtwanger war ein gebeutelter Zeitgenosse des 20. Jahrhunderts, der als Jude vor dem Terror des Nationalsozialismus fliehen musste, um kurzzeitig in Stalins Moskau eine erstrebenswerte Zukunft zu suchen. Solchen Erfahrungen ausgesetzt, erzählt er über eine gewaltsame Übergangszeit zwischen Feudalismus und Republik, die durchaus Assoziationen zum Heute wachruft:
Da ist zum einen das prinzipielle Unverständnis der unterschiedlichen Stände füreinander, die aus der Interpretion von Rousseaus Texten ganz unterschiedliche Schlussfolgerungen ziehen: Während die privilegierten und sich dennoch fortschrittlich wähnenden Teile des ancien regime (heute würde man wohl “Elite” sagen), sich auf Rousseau beziehend, noch darüber nachdenken, wie es gelingen kann, seine im “contrat social” zusammengefassten Ideen eines humanen Zusammenlebens umzusetzen, geraten sie unerwartet in gewaltsamen Gegensatz zu alldenjenigen, die sich von den herrschenden Verhältnissen als diskriminiert sehen und als Teil einer revolutionären Bewegung – wenn es denn sein muss – auch gegen ihre, noch so wohlmeinenden Unterdrücker handeln (“Das Volk”): Weil, wo gehobelt wird, da fallen Späne.
Und da sind zum anderen diejenigen, die die kulturelle Hegemonie erobert haben, um ihren Gefolgsleuten die Welt (in dem Fall Rousseaus Gedankenwelt) alternativlos so zu erklären, wie es ihnen für ihren unbedingten Machterhalt notwendig erscheint. Und dafür jede erdenkliche Gegenleistung einfordern.
Der Roman “Narrenfreiheit” entwickelt ein lebendiges Bild vom Verlauf der Französischen Revolution, auch einige ihrer Widersprüche, etwa die Weigerung, die Sklaverei in den Kolonien abzuschaffen, werden thematisiert.
Aufklärung hin oder her: In der Ver-klärung Rousseaus ist eine eine direkte Linie von Robbespierre, Lenin bis zu Putin und ihrer Unterfütterung totalitärer Herrschaftsstrategien unübersehbar.
Wer mehr darüber erfahren will, dem empfehle ich die Lektüre von “Narrenfreiheit” dieses heute weitgehend vergessenen und doch noch vor wenigen Jahren bekanntesten deutschen Autors.