Wimmer’s Kommentar
Michael Wimmer bezieht in seinen Kommentaren regelmäßig Stelllung zu den neuesten Entwicklungen in Kultur, Bildung und Politik.
Ergänzt werden diese durch eigene Begegnungen und Erlebnisse im Rahmen seiner Tätigkeit als Dozent, Autor und Berater.
Kultur und Krieg – Über kulturelle An-Eignung und kulturelle Ent-Eignung
Die Oe1-Sendung „Freundschaft, die den Krieg überdauert“ hat mir noch einmal die potentiell verheerenden Wirkungen des Anspruchs kultureller Zugehörigkeit vor Ohren geführt.
Es ist für mich gut nachvollziehbar, dass vor allem sich diskriminiert fühlende Menschen das Bedürfnis haben, sich entlang gemeinsamer Interessen zusammenzuschließen wollen, um ihr Standing in einer ungleichen Gesellschaft besseren Ausdruck verleihen zu können. Diese Interessen aber zu „Kultur“ zu erhöhen, torpetiert die Idee des Politischen, der u.a. auf der Relativierung jeglicher Zugehörigkeit beruht. Der Anspruch einer je „eigenen Kultur“ hingegen verweist auf eine prinzipielle Andersartigkeit ihrer Träger, die sie kategorial von allen anderen unterscheidet. Ein politischer Aushandlungsprozess mit den Zugehörigen einer anderen Kultur wird so ausgeschlossen. Was am Ende bleibt, das ist ein Kulturampf auf Leben oder Tod – Du oder ich.
Als junge Sozialarbeiter waren wir von der Mission bestimmt, vor allem benachteiligte Jugendliche in ihrem kulturellen Selbstverständnis bzw. kulturellen Zugehörigkeit stärken zu müssen. Dieses würde ihnen die Kraft geben, sich ihrer sozialen Ausgesetztheit bewusst zu werden, um sich so für den politischen Kampf um ein besseres Standing in der Gesellschaft aufzumunitionieren.
Darin waren wir offensichtlich sehr erfolgreich. Aber nach 50 Jahren der „Kulturalisierung“ der nationalen Gesellschaften müssen wir erkennen, dass das nur der erste Schritt sein konnte. Sich der eigenen kulturellen Zugehörigkeit bewußt zu werden, das ist das eine. Aus ihr heraustreten und sich als politisches Subjekt davon zu emanzipieren, das ist der andere, wahrscheinlich entscheidende Schritt, wenn demokratisches Zusammenleben gelingen soll.
Die aktuelle kulturpolitische Diskussion um kulturelle Identität, kulturelle Aneignung und damit verbundene Ein- und Ausschlussstrategien hat das Potential, die ursprünglich damit verbundenen Intentionen gesellschaftlicher Partizipation in ihr Gegenteil zu verkehren. Die verheerenden Wirkungen einer an „Kultur“ ausgerichteten gesellschaftlichen kulturellen Interpretation politischer Interessen kann bis heute nirgends so gut studiert werden wie am Fall Bosnien. Antidemokraten aller Länder wissen, wie es geht.
Um diesen entgegenzutreten, erscheint es mir heute so wichtig wie nie zuvor, Menschen aus ihren kulturellen Gefängnissen zu befreien, sie heraustreten zu lassen aus ihrer zugeschriebenen kulturellen Bestimmung. Es gilt, sie in erster Linie als politische Subjekte zu begreifen ungeachtet dessen, was sie an kulturellem Ballast noch mit sich herumschleppen bzw. was Mächtige versuchen, Menschen auf ihre kulturellen Besonderheiten zu reduzieren.
In einer historischen Phase umfassender Verunsicherung ist es verführerisch, sich auf der Suche nach Gemeinschaftsgefühl ins, von cleveren Politstrateg*innen gemachte Bett kultureller Zugehörigkeit fallen zu lassen. Von dieser kollektiven Regression haben sich – wie uns René Pfister in ihrer jüngst veröffentlichten Studie „Kein falsches Wort“ berichtet – mittlerweile auch Teile der Linken haben anstecken lassen. Eine nachhaltige Emanzipation der „Erniedrigten und Beleidigten“ können wir dadurch nicht erwarten.
Vielmehr von einer Kulturpolitik, die uns im politischen Kampf lehrt, kulturelle Zugehörigkeiten zu ent-lernen, damit, sich ihrer Relativität bewusst zu werden, sich ihrer zu entledigen bzw. vergessen zu lassen. Jedenfalls in politischen Entscheidungsprozessen, die darauf gerichtet sind, gleichberechtigte Mitglieder einer demokratischen Gesellschaft in permanenten Interessensausgleich treten zu lassen.
Vielleicht war es noch nie so wichtig, dass Kulturpolitik öffentliche Orte bereithält, deren Zugang daran gebunden ist, kulturelle Zuschreibungen an der Garderobe abzugeben.
Die damit kulturelles Ent-Lernen zur obersten Maxime macht.