Wimmer’s Kommentar
Michael Wimmer bezieht in seinen Kommentaren regelmäßig Stelllung zu den neuesten Entwicklungen in Kultur, Bildung und Politik.
Ergänzt werden diese durch eigene Begegnungen und Erlebnisse im Rahmen seiner Tätigkeit als Dozent, Autor und Berater.
Neugier als eine zentrale kulturelle Ressource
In letzter Zeit erlebe ich in Diskussionen eine zunehmende Vehärtung der Positionen. Es ist, als würden sich die Diskutant*innen mit ihren Einschätzungen einbetonieren wollen und auf diesen bestehen, ohne sich noch groß dafür zu interessieren, was von der jeweils anderen Seite kommt.
Für mich ist das nicht ein Ausdruck der Stärke sondern einer wachsenden Verunsicherung, die die Diskutant*innen zunehmend verzweifelt nach eindeutigen Haltegriffen in einer uneindeutigen Welt schreien lässt: So ist es, da fährt die Eisenbahn drüber. Persönlich heißt das Ignorsnz; gesellschaftlich wohl Polarisierung.
Die Prekarität einer solchen Haltung wird für mich auch dadurch deutlich, dass in solchen – auf Eindeutigkeit regichteten Settings – jedes Gegenargument nicht mehr sachlich verhandelt werden kann sondern als ein persönlicher Angriff missdeutet wird, der mehr über den widersprüchlichen Gefühlshaushalt des/der Diskussionspartner*in erzählt als über dessen/deren intellektuelles Vermögen.
Als wären wir noch nicht in einer Kommunikationsgesellschaft angekommen, entstehen so viele bezugslose Inseln des Eigenen, deren Bewohner*innen das Andere in seinem Eigenwert nicht mehr zu erfahren vermögen. Sie versuchen krampfhaft zu verdrängen, dass die eigene Position so lange überhaupt keine Bedeutung hat, solange sie nicht auf andere trifft, sich an ihnen in Frage stellen lässt, sich reibt und so überhaupt erst neue Blickwinkel eröffnet.
Es ist nicht der Einzelne, der so etwas wie Wahrheit schafft, als Individuen kommen wir über die Reproduktion von Stereotypien nicht hinaus. Zumindest für alle Nicht-Fundamentalist*innen ist handlungsleitende Wahrheit das Ergebnis eines gemeinsamen Aushandlungsprozesses. Ein solcher verändert alle Beteiligten und lässt uns weiter entwickeln. Wir gehen anders in einer Diskussion hinein als wir aus ihr rausgehen, und wir diskutieren in der Hoffnung, das eine solche Dynamik entsteht. Als Ausdruck des Lebendigen in uns.
Eine solche Bereitschaft, sich auf das andere einzulassen, entsteht nicht von allein. Sie will gelernt werden. Und zwar lebenslang. Und ja, sie will ausgehalten und verteidigt werden gerade in einer Phase, in der immer mehr sich darauf beschränken, echt haben zu wollen.
Eine zentrale Ressource dafür scheint mir die Neugier. Wenn ich wissen will, wie der/die andere tickt, dann ist das Ergebnis interessanter und wichtiger als die Bestätigung des Eigenen. Zumal in einer Welt, die sich gerade in unvorsehbaren Veränderungen überschlägt.
Nicht verteidigen sondern verändern, das ist die eigentliche kulturelle Leistung.