Wimmer’s Kommentar
Michael Wimmer bezieht in seinen Kommentaren regelmäßig Stelllung zu den neuesten Entwicklungen in Kultur, Bildung und Politik.
Ergänzt werden diese durch eigene Begegnungen und Erlebnisse im Rahmen seiner Tätigkeit als Dozent, Autor und Berater.
Noch einmal “Kulturnation” und ich schreie.
Kein Interview mit einem/r arrivierten österreichischen Künstler*in in diesen Tagen, in dem nicht das drohende Ende der “Kulturnation” beklagt wird.
Und ich frage mich: Woher kommt die umfassende Amnesie, die uns bis heute vergessen lässt, dass die “Kulturnation” der Versuch konservativer Politiker war, in einem weitgehend devastierten Kleinstaat samt desorientierter Bevölkerung nach 1945 mit rückwärts gewandtem Blick auf das kulturelle Erbe der k.u.k Monarchie (genauer auf dessen deutschsprachigen Teil) seine Unschuld wieder zu geben? Vereinfacht gesagt: Es galt, mit Schubert und Mozart die materiellen und immateriellen Verheerungen der Nazi-Diktatur notdürftig zu übertünchen und Österreich dauerhaft in ein konservatives Fahrwasser zu lenken.
Dass der Bedarf an nationaler Identitätsbildung heute weitgehend gestillt ist, das sollen wir ernsthaft bedauern? In einer Zeit, in der allenfalls Rechtspopulist*innen samt ihrem rechtsradikalen Gefolge den Wunsch verspüren, die vermeintlichen österreichischen kulturellen Besonderheiten gegen alle anderen Einflüsse zu verteidigen, während alle anderen – wenn auch manchmal mühsam – sich dran machen, sich in kultureller Diversität einzufinden?
Vielleicht sollten wir den Apologet*innen der “Kulturnation” noch einmal in Erinnerung rufen, dass dieses Ideologem einen besonders hohen Preis hatte: Die naive Zelebration dieser zwanghaften Vergemeinschaftung verweigert das Anerkenntnis, dass sie nur auf der Grundlage eines rigiden Ausschlussverfahrens nach 1945 gebildet wurde. Weite Teile des jüdischen Lebens und damit eines essentiellen Teils der Intellektuellen und Künstler*innen war umgebracht oder ins Exil getrieben worden. Mit Ausnahme des Wiener Kulturstadtrates Viktor Matejka gab es keine Versuche, die Überlebenden einzuladen, zurückzukehren und mit ihnen den Kulturbetrieb wieder in Gang zu setzen. Die Implementierung eines latent antidemokratischen, jedenfalls antiintellektuellen Konservativismus spezifisch österreichischer Prägung sollte von ein paar unzuverlässlichen Gesellen nicht in Frage gestellt werden.
Stattdessen nahmen eine Reihe austrofaschistisch geschulter Funktionäre wie Hans Pertner das kulturpolitische Heft in die Hand und machte sich an die Arbeit. Also mutierten Karl Böhm oder Paula Wessely zu den “echten Österreicher*innen, die würdig genug erschienen, die österreichische “Kulturnation” zu repräsentieren. Alle anderen sollten auf Dauer draußen bleiben. Eine höchst erfolgreiche Strategie, die bis heute Wirkung auf die Gesamtverfassung des Landes zeigt.
Also ist es durchaus verständlich, dass die Nutznießer*innen dieses österreichischen Kulturkonservativismus nach wie vor gerne darauf rekurrieren. Auch wenn sich die österreichische Gesellschaft seither nachhaltig verändert hat, diverser und in seinem kulturellen Ausdrucksformen vielfältiger geworden ist. Der Erfolg der “Kulturnations-Erzählung” spiegelt sich auch darin wider, dass sich diese Vielfalt in keiner Weise im Kulturbetrieb angekommen ist.
Geht es nach den Beschwörer*innen der “Kulturnation”, dann soll es das auch nicht: Die Nicht-Schuberts und Nicht-Mozart sollen draußen bleiben und mit ihnen alle, die den ebenso nostalgischen wie nach wie vor herrschenden Blick auf eine “Welt von Gestern” mit ihrer kulturellen Vorstellungen einer “Welt von Morgen” konterkarieren könnten.
Wie sehr manche Künstler*innen den Boden der gesellschaftlichen Realitäten verlassen haben, zeigt ihr immer wiederkehrendes Argument zur Charakterisierung des Niedergangs eben dieser “Kulturnation”: Dieser wird gerne an der Notwendigkeit festgemacht, in der Schule zwischen Musik und Bildnerischer Erziehung entscheiden zu müssen. Diese Wahlmöglichkeit mag man kritisieren.
Es würde aber nicht schaden, dazu zu sagen, dass das nur rund ein Fünftel aller 15-18 jährigen Schüler*innen in den gymnasialen Oberstufen betrifft. Mehr als 40% dieser Altersgruppe ist da bereits in einer beruflichen Ausbildung. Die anderen rund 40% besuchen eine berufsbildende mittlere oder höhere Schule, in denen traditionell künstlerische Trägerfächer bis auf wenige Ausnahmen überhaupt nicht angeboten werden.
Aber mit solchen jungen Menschen die meisten der Klage führenden Künstler*innen wohl noch nie in Kontakt und wissen so über ihre Schul- und Lebenswelten gar nichts. Also halten sie ihnen die Karotte der “Kulturnation” hin und wundern sich, dass immer weniger Menschen sich dafür interessieren.
Gottseidank, kann ich nur sagen!