Wimmer’s Kommentar
Michael Wimmer bezieht in seinen Kommentaren regelmäßig Stelllung zu den neuesten Entwicklungen in Kultur, Bildung und Politik.
Ergänzt werden diese durch eigene Begegnungen und Erlebnisse im Rahmen seiner Tätigkeit als Dozent, Autor und Berater.
Und nochmals Annie Ernaux:
Glücklich der Verlag, der eine Nobelpreisträgerin unter Vertrag hat. So kann Suhrkamp einen Text von Annie Arnaux mit dem Titel “Der junge Mann” in Buchform und unter Buchpreisbedingungen unter die Leute bringen, dessen Leseertrag rein quantiativ – je nach individueller Lesegeschwindigkeit – 10 – 15 min beträgt.
Inhaltlich berichtet uns die Autorin von einer Liebe zwischen ihr und einem wesentlich jüngeren Mann; keine Selbstverständlichkeit, bis heute. Und daher ein nicht nur literarisch lohnenswerter Gegenstand.
Fasziniert hat mich vor allem das von Ernaux vorgetragene Motiv dieser Liebe. Dies liegt einerseits darin, nach dem Liebesakt zu dem zu kommen, um was es ihr eigentlich geht: ums Schreiben. Und andererseits um die Möglichkeit der Wiederholung, wenn der junge Mann dieselbe soziale Inferiorität repräsentiert, der die Autorin ausgesetzt war. Und damit als idealer Schuhlöffel funktioniert, der dafür herhält, um Ernaux noch einmal in die Umstände ihrer eigenen Jugend (und den Ausbruchsversuchen) eintauchen zu lassen, um die sie selbst “autofiktional” in ihren Texten kreist.
Und so erzählt die Autorin nicht von einer Liebe der Liebe willen, skandalös hin oder her. Sondern von ihren Arbeitsbedingungen, in denen der “junge Mann” – jedenfalls für eine gewisse Zeit – eine produktive Funktion zukommt.
Zumindest ein Stück weit ist also der Nobelpreis an Annie Ernaux auch dem “jungen Mann” zu verdanken. Suhrkamp ist immerhin zu danken, dass er uns das zumindest indirekt wissen lässt.
https://www.perlentaucher.de/buch/annie-ernaux/der-junge-mann.html