Wimmer’s Kommentar
Michael Wimmer bezieht in seinen Kommentaren regelmäßig Stelllung zu den neuesten Entwicklungen in Kultur, Bildung und Politik.
Ergänzt werden diese durch eigene Begegnungen und Erlebnisse im Rahmen seiner Tätigkeit als Dozent, Autor und Berater.
„Verbrechen und Strafe“ – eine Relektüre in Zeiten des Krieges
Viel war zuletzt die Rede von der Notwendigkeit, angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine, „die russische Kultur“ in seiner Gesamtheit zu verbannen.
Ich halte das für einen Fehler. Und habe mir zuletzt nochmals Fjodor Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ vorgenommen. Und war nach der Lektüre beeindruckt, was dieser, selbst höchst zerrissene Autor über russische Befindlichkeiten, die bis ins Heute reichen, zu erzählen weiß. Er schildert eine zerbrochene Gesellschaft, höchst emotionalisiert, immer „am Rande des Nervenzusammenbruchs“ Elend und Tod ausgesetzt, ohne jede Aussicht auf kollektive Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Und gerade deshalb überzeugt, schicksalhaft für Größeres auserkoren zu sein. Auf diesem devastierten Boden gedeihen nur zu leicht Ideen vom Übermenschen, der sich über alle Regeln hinwegzusetzen vermag, um das Volk in die richtige Richtung zu lenken. Egal wie viele Opfer es zu beklagen gilt, Hauptsache der Führer weiß, wo es lang geht.
Beim Jura-Studenten Raskolnikow, der anhand von Napoleon vom Recht träumt, sich über das Leben anderer erheben zu können, bleibt es beim dilettantischen Mord an einer Pfandleiherin und ihrer Schwester, der im Zuge einer spannenden Kriminalgeschichte (atemberaubend die Gespräche zwischen Raskolnikow und dem Aufdecker Porfirij Petrowitsch) gar nichts bewirkt, außer das bestehende Beziehungs-Chaos um ihn herum noch weiter zu vergrößern. Und wir lesen die höchst spannende Geschichte des Aufbegehrens und des Scheiterns bzw. der Einsicht in dieses Scheitern. Dostojewski war sich selbst lange Zeit nicht im Klaren (den Roman schrieb bzw. diktierte er in äußerster Hektik als Fortsetzungsgeschichte in einer Zeitung), wohin er den Helden im Verlauf des Romans führen würde, ob der den Helden zur Flucht nach Finnland verhelfen, ihn Selbstmord verüben lassen oder ihn der Gerichtsbarkeit überlassen würde.
Entschieden hat er sich schließlich für die letzte Variante. Raskolnikow stellt sich den Behörden, um sich in einem Strafgefangenen-Lager seiner Läuterung zu unterziehen. Um Bestätigung darin zu finden, dass im Leben Glück nur durch Leiden zu erfahren sei. Immerhin weiß er sich darin durch sein besseres Ich Sonja bestätigt, die im Wunsch, ihre eigene Not hinter sich zu lassen, unverbrüchlich zu ihm steht.
Beiden bleiben am Ende des Romans noch sieben Jahre, bis eine neue Geschichte beginnen kann, einer Geschichte von der „allmählichen Erneuerung eines Menschen, die Geschichte seiner allmählichen Wiedergeburt, von dem allmählichen Übergang aus der einen Welt in eine andere, von der Entdeckung einer neuen, bisher völlig unbekannten Wirklichkeit…“
Es wird an uns allen liegen, diesen Zeitraum zu verkürzen. Oder selbst daran zugrunde zu gehen.