Wimmer’s Kommentar
Michael Wimmer bezieht in seinen Kommentaren regelmäßig Stelllung zu den neuesten Entwicklungen in Kultur, Bildung und Politik.
Ergänzt werden diese durch eigene Begegnungen und Erlebnisse im Rahmen seiner Tätigkeit als Dozent, Autor und Berater.
09/08/2023
Von wegen “Überproduktionskrise” des Kulturbetriebs
Kolleg*innen berichten mir, dass Kulturpolitiker*innen zuletzt immer häufiger das Wort „Überproduktionskrise“ in den Mund nehmen. Zur Erklärung führen sie an, dass zumindest bestimmte Teile des kulturellen Schaffens nicht mehr genügend Konsument*innen finden würden, um die Förderung seiner Produktion zu rechtfertigen.
Nun stimmt die Einschätzung, dass eine „Neue Kulturpolitik“ seit den 1970er Jahren – wie übrigen alle anderen Wirtschaftsbereiche – auf Wachstum ausgerichtet war. Jährliche Zuwächse der Fördersummen dienten dazu, das Angebot an kulturellen Gütern stetig zu vermehren. Vor allem aber befreiten sie die involvierten Kulturpolitiker*innen von der Notwendigkeit, Verteilungskämpfe innerhalb des Kulturbetriebs zu moderieren oder gar eigene Schwerpunkte samt damit verbundener Umverteilung zu setzen. Es war dies eine kulturpolitische Praxis der Ruhigstellung; mit der Bereitstellung eines stetig wachsenden Kuchens bekamen die Großen zwar weiterhin viel mehr und die Kleinen viel weniger. Aber mit dem Argument, nur ja keine Neiddebatte anzuzetteln konnte die bewährte Hierarchie im Bereich der Kulturproduktion weitgehend widerspruchslos aufrechterhalten werden (so frustrierend diese anhaltende Ungleichbehandlung in den letzten Jahren auch immer vor allem für den Freien Bereich war).
Für eine detailliertere Verhandlung der Konsument*innen konnten sich nur wenige Kulturpolitiker*innen erwärmen. Zu dominant die These, jede Form der Kulturproduktion würde quasi automatisch zu einer vermehrten Konsumption führen. Dies umso mehr, als der Kulturbetrieb zunehmend auf Markterfordernisse getrimmt wurde. Professioneller Marketing-Maßnahmen würde schon für eine entsprechend Nachfrage sorgen.
Es blieb einer, am Rand der Kulturbetrieblichkeit sich festsetzenden Vermittlungsszene vorbehalten, die unbedingte Zurichtung ihrer Einrichtung auf Markterfordernisse in Frage zu stellen, um so eine alternative Begründung zur Bedeutung von „Kultur“ in der Gesellschaft zu versuchen.
In ihrem Sinn sind Kulturpolitiker*innen, denen der Begriff der „Überproduktionskrise“ zunehmend leicht über die Lippen kommt, daran zu erinnern, dass Kulturpolitik einst mit dem Slogan „Kultur für alle“ aufgebrochen ist, der darauf abstellte, den Kulturbetrieb zu demokratisieren: Im Prinzip sollten alle Menschen Teil des vielfältigen kulturellen Geschehens sein, um damit den privilegierten Zugang einiger weniger in Frage zu stellen.
Klar kann man die vorliegenden empirisch belegten Daten, die belegen, dass über die letzten 50 Jahre hinweg nur ein kleiner Prozentsatz das öffentlich geförderte Kulturangebot wahrnimmt, zum ausschließlichen Maßstab kulturpolitischer Entscheidungsfindung erklären, mehr, den beherrschenden Marktkräften die Entscheidungen überlassen.
Oder man kann noch einmal versuchen, die eminent politische Dimension jeglicher Kulturpolitik hervorstreichen (die Rechten wissen um die Wirksamkeit). Sie besteht u.a. darin, den Kulturbetrieb gerade nicht den Marktverhältnissen zu unterwerfen. Sondern mittels geeigneter Maßnahmen sicher zu stellen, dass „Kultur“ jenseits vermeintlich sakrosankter Markterfordernisse alle angeht.
Und es vorrangige Aufgabe von Kulturpolitik sein könnte, den Kulturbetrieb als essentielle Voraussetzung für das Zusammenleben aller in einer Vielfaltsgesellschaft neu zu positionieren. Dazu aber müssten die Entscheidungsträger*innen Kulturpolitik neu konzipieren und mit mutigen Schwerpunktsetzungen Farbe bekennen. Sie würden damit hinauswachsen über ihre Selbstbeschränkung als staatliche Versicherungsinstanz, mit Hilfe derer alles so bleiben kann wie es ist, in Zeiten der Krise ein wenig kleiner halt.
P.S.: Hat jemand etwas Neues zur Österreichischen Kunst- und Kulturstrategie gehört, die sich die Bundesregierung in ihrem Regierungsprogramm vorgenommen hat?