Wimmer’s Kommentar
Michael Wimmer bezieht in seinen Kommentaren regelmäßig Stelllung zu den neuesten Entwicklungen in Kultur, Bildung und Politik.
Ergänzt werden diese durch eigene Begegnungen und Erlebnisse im Rahmen seiner Tätigkeit als Dozent, Autor und Berater.
Was mir beim Lesen von Annie Ernaux’s Text “Der Platz” durch den Kopf geht
Anhand von Bruchstücken ihrer Erinnerung ließ die französische Literaturnobelpreisträgerin bereits 1983 das Leben ihres Vaters wieder erstehen. Zugleich erzählt sie die schmerzhafte Geschichte ihre eigene Befreiung aus den scheinbar schicksalhaft zugeschriebenen Lebensverhältnissen ihrer Eltern.
Sie wendet dabei die Methode einer “literarischen Wissenschaft” an, die jede romanhafte Überhöhung vermeidet. Um statt dessen mit jeweils einigen wenigen beschreibenden Sätzen eine unmittelbare Nähe mit ihrem Helden herzustellen, die jedes beschönigende Beiwerk, und sei es der Erklärung, hinter sich lässt. Sie gibt damit dem Vater in seiner gesellschaftlichen Inferiorität beimaller Entfremung die Würde zurück, die ihm gebührt.
Wir lesen diesen Text spätestens nach Didier Eribons sozioligischer Studie “Rückkehr nach Reims” anders. Als einen literarischen Versuch, im Rückblick noch einmal die Brutalität von Klassenzuschreibungen zu fassen. Und die nicht geringere Brutalität, wenn es darum geht, diese zu durchbrechen und – zum eigenen Vorteil – zu verraten.
Warum die Lektüre von “Der Platz” heute so wichtig ist? Weil die dort beschriebenen Klassenverhältnisse weiterhin bestehen. Und damit die Schwierigkeiten ihrer Mitglieder, sie zu überwinden. Im Regime des postmodern verbrämten Neoliberalismus dürfen diese Trennungen aber so nicht mehr als solche benannt werden; geschweige denn in ihren Machtbeziehungen analysiert und politisiert. Weil wir ja angeblich in sozial entgrenzten Zeiten leben, in denen ethnisch-kulturelle Zuschreibungen zum neuen Maßstab für Ein- und Ausgrenzung geworden sind. Den Rest besorgen entpolitiserende Identitätsversicherungen.
Und ich stelle mir vor, Pamela Rendi-Wagner und ihre Freund*innen, die es geschafft haben, ihrem Milieu zu entkommen, würden sich anhand der Lektüre noch einmal bewußt werden, welch notwendig tragischer Verratsgeschichte sie ihren Aufstiegserfolg verdanken. Und wie vergeblich ihre Hoffnung ist, sich von ihren Ursprüngen abzugrenzen, um irgendwann vom konservativen Establishment anerkannt zu werden.
Ernaux zeigt mit literarischen Mitteln, was es heißt, über sein Milieu hinauszuwachsen. Und ihm doch solidarisch verbunden zu bleiben.
Anstatt die von Ihnen Zurückgelassenen rechtsradikalen Schleimern zu überlassen.
Zögen Rendi-Wagner und Co daraus die richtigen Lehren, die österreichische politische Landscaft sähe anders aus.