Wimmer’s Kommentar
Michael Wimmer bezieht in seinen Kommentaren regelmäßig Stelllung zu den neuesten Entwicklungen in Kultur, Bildung und Politik.
Ergänzt werden diese durch eigene Begegnungen und Erlebnisse im Rahmen seiner Tätigkeit als Dozent, Autor und Berater.
Kann es sein, dass Kultur nichts mehr kann?
Geht es nach dem Befund des deutschen Soziologen Philipp Staab, dann hat sich in den modernen Gesellschaften die Vorstellung von „Fortschritt“ verflüchtigt. In seiner jüngst veröffentlichten Analyse „Anpassung – Leitmotiv der nächsten Gesellschaft“ sind junge Menschen nicht mehr damit beschäftigt, eine „bessere Welt“ zu verwirklichen. Sondern damit, die „gemeinsamen Zukunftsängste“ zu managen. Auch auf individueller Ebene heißt ihr Leitmotiv nicht mehr „Selbstentfaltung“ sondern „Selbsterhaltung“. Nicht mehr das Gestalten ihrer Lebensumstände treibt sie um, sondern zu kollektive Einsicht, dass die Steuerungsfähigkeit der Gesellschaften wesentlich geringer ist, als ihre Elterngeneration noch angenommen hat. Statt zunehmend illusionär erscheinende Zukunftspläne zu machen, gilt es, mit all den Krisenerscheinungen wie Pandemie, Klimawandel, Arbeitsunsicherheit, Auseinanderbrechen der Gesellschaften und jetzt auch noch Krieg zurecht zu kommen. All das – geht es nach Staab – würde uns allen (und den Jungen ganz besonders) permanente Anpassungsleistungen abverlangen, um mit den Gegebenheiten „irgendwie“ zurecht zu kommen.
Es gilt also, angesichts sich vertiefender Verunsicherung, weiter zu wurschteln. Die einzig positive Konsequenz, die sich daraus ergibt, liegt im Wegbrechen eines (zuletzt zunehmend leer gewordenen) ideologischen Anspruchs auf Selbstverwirklichung (samt Leistungsbereitschaft, Kreativität, Innovationsfähigkeit…. und wie die permanenten Stress verursachenden Slogans einer Überforderungsgesellschaft alle heißen): „Wer nicht mehr glaubt, das meiste für sich und seine Umgebung herausholen zu müssen, der glaubt auch nicht mehr an die Zurufe, es dauernd zu müssen.“
Eine solche kollektive Desillusionierung hat gravierende Auswirkungen auch auf unser kulturelles Selbstverständnis. Also gilt es nachzufragen, was diese Haltungsänderung für den Kulturbetrieb bedeutet. Immerhin verstehen sich ihre Vertreter*innen gerne als eine Speerspitze moderner Entwicklung. Mit ihrer Hilfe sollten neue Möglichkeitsräume eröffnet, auf spielerische Weise Zukunftsentwürfe verhandelt, zumindest den Besucher*innen ein Spiegel vorgehalten werden, in dem sie die Probleme ihrer Zeit erkennen, aushalten und bearbeiten vermögen.
Dieses Bedürfnis, sich in einem Schutz- und Experimentierraum für eine bessere Zukunft zu bewegen, mag für die unmittelbar Beteiligten weiterhin gelten. Zu vermuten aber ist, dass das für immer mehr Menschen außerhalb des Kulturbetriebs nicht mehr der Fall ist. In der permanenten Anstrengung, mit den Zumutungen des Lebens zurecht zu kommen, ist ihr Bedarf gesunken, sich – und sei es von noch so gutmeinenden Künstler*innen – sagen zu lassen, dass es gravierende Probleme in der Welt gibt und sie die Aufgabe hätten, sich damit auseinander zu setzen. Das wissen sie im immer schwieriger werdenden Versuch der Bewältigung des Alltags selbst nur zu gut. Dazu bedarf es keiner darüber hinaus gehender Belehrungen einiger, als privilegiert gehandelten Künstler*innen mehr.
Die künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts haben es als ihren Auftrag angesehen, in der Hoffnung auf enge Verknüpfung von Kunst und Leben relevant für die Menschen zu sein. Jetzt ist die den Künsten innewohnende Widersprüchlichkeit und Prekarität bei den Menschen angekommen: Das, was auf der Bühne passiert, ist für sie kein Spiel mehr, es ist für sie Realität geworden. Und bedarf so keiner künstlerischen Überhöhung mehr. Kunst und Leben sind – freilich anders als konzipiert – zur Deckung gekommen.
Aus dieser unerwarteten Engführung kommen wir um die Frage nicht herum, was der Kulturbetrieb den Menschen noch zu sagen hat (was sie nicht ohnehin schon wissen). Einzelne Kommentatoren wie der Kurier-Kulturjournalist Thomas Trenkler raten zu mehr „Unterhaltung“, in der Hoffnung, damit das Publikum zumindest für kurze zeit von ihren Sorgen ablenken zu können. Andere machen einfach weiter wie bisher, in der Hoffnung, damit eine außerhalb des Kulturbetriebs längst zu Ende gegangene „Normalität“ bieten zu können.
Der aktuelle Zwang zu immer mehr Anpassungsleistungen verweist auf ein Grundproblem: Dieses erklärt den aktuellen Publikumsschwund vor allem daraus, dass potentielle Nutzer*innen inhaltlich vom Kulturbetrieb nichts mehr erwarten, was nicht schon längst in ihrem Alltag angekommen ist. Also werden die einzelnen Akteursgruppen des Betriebs noch eine Weile um sich selbst kreisen (Fair Pay, Nachhaltigkeit, Diversität, Gender,…..), in der Hoffnung, dass irgendwann ein neues (kultur-)politisches Projekt ihnen neuen Schwung verleiht. Dieses sollte in der Wiederaneignung des Fortschrittsgedankens noch einmal glaubwürdig auf eine bessere Zukunft verweisen. Um so dem Kulturbetrieb eine neue Relevanz zu verleihen, die seine Existenz nicht nur unter Seinesgleichen sondern in breiteren Teilen der Vielfalts-Gesellschaften in überzeugender Weise zu rechtfertigen vermag. Bis dahin gilt auch für den Kulturbetrieb: Weiter wurschteln.