Wimmer’s Kommentar
Michael Wimmer bezieht in seinen Kommentaren regelmäßig Stelllung zu den neuesten Entwicklungen in Kultur, Bildung und Politik.
Ergänzt werden diese durch eigene Begegnungen und Erlebnisse im Rahmen seiner Tätigkeit als Dozent, Autor und Berater.
Über das Hochstilisieren kultureller Identitäten und Über den Verlust des Begriffs der Emanzipation.
In diesen Tagen fand ich mich plötzlich im Gespräch über die grassierende Verunsicherung, wenn es darum geht, ein unbekanntes Gegenüber korrekt anzusprechen. Im Zuge der Auflösung eindeutiger Geschlechtszuschreibungen geriete – so meine Gesprächspartner*innen – der/die Ansprechende nur allzu leicht in die Bredouille, jemanden so anzusprechen, wie er/sie/sonstwie angesprochen werden möchte. Mein lapidarer Vorschlag, mein Gegenüber einfach zu fragen, wie es angesprochen werden möchte, stieß auf Skepsis.
Also wuchs meine Vermutung, dass es garnicht um die korrekte Ansprache geht sondern um die daraus resultierende Verunsicherung, die der angesprochenen Person zumindest kurzfristig einen Machtvorteil verschafft, ohne dass der/die Ansprechende dem entgehen könnte.
Und schon sind wir mitten in der grassierenden Identitätsdebatte, die darauf abstellt, einzelnen Gruppen entlang kultureller Zuschreibungen Distinktionsgewinne zu verschaffen, die stark genug wirken, um die bestehenden Machtverhältnisse zumindest punktuell zu irritieren.
Mir kommt bei der Gelegenheit mein kulturpolitisches Engagement in den Wiener Jugendzentren der 1970er und 1980er Jahre in Erinnerung. Ich hatte es vor allem mit jugendlichen Außenseiter*innen zu tun, die am Wiener Stadtrand in vielfacher Weise von der Mehrheitsgesellschaft diskriminiert worden sind. Unser Bestreben als Sozialarbeiter*innen damals war es – auch mit kulturellen Mitteln – den Jugendlichen ihre gesellschaftliche Ausgesetztheit bewusst zu machen. Dies sollte dazu beitragen, ihre Selbstzuschreibung als passive politische Objekte, die ihren Lebensumständen weitgehend hilflos ausgeliefert sind zu überwinden.
Helfen sollten dabei Kenntnisse ihrer Diskriminierungsgeschichte als Kern einer ihnen gemäßen eigenen kulturellen Identität, auf die sie bestehen und stolz sein können.
Dabei wollten wir damals aber nicht stehen bleiben. Die kulturellen Selbstzuschreibungen sollten nur als eine Zwischenstation im Zuge weiterer Emanzipationsschrittes dienen, der es den Jugendlichen erlauben würde, als politische Subjekte aktiv aus ihren engen kulturellen Grenzen herauszutreten und als emanzipierte junge Bürger*innen, die in der Lage sind, aus ihren kulturellen Schatten zu treten, den Anspruch der vollwertigen und gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben zu stellen.
Als Beobachter der heutigen Identitätsdiskussion gewinne ich den Eindruck, dass eine immer weitere Zersplitterung der Gesellschaft entlang je besonderer Leidens- und Diskriminierungsgeschichten eine zunehmende politische Gefahr darstellt. Wir haben uns allzu leichtfertig daran gewöhnt, die Zelebration von kulturellen Besonderheiten als Wert „an sich“ zu verhandeln. Wir haben gelernt, uns mit der Selbst- oder Fremdzuschreibung einer je besonderen kulturellen Identität (samt damit verbundenem Gefühl der Aufwertung im bestehenden Machtgefüge) in dem Maß zufrieden zu geben, als das gesellschaftliche Ganze als ein politisches Ziel abhanden gekommen zu sein scheint. Damit betreiben wir ungewollt die Geschäfte derer, die auf eine Kulturalisierung von Politik samt damit verbundener Segregationswirkung setzen.
Also mag ich zumindest mich selbst daran erinnern, dass diese Form kultureller Selbstzufriedenheit noch immer zu einem Mehr an gesellschaftlicher Fragmentierung, Ungleichheit, Spaltung und Gewalterfahrung geführt hat. Die zentrale kulturpolitische Aufgabe besteht demnach nicht darin, Bürger*innen ihre jeweiligen kulturellen Silos schmackhaft zu machen.
Sondern sie als citizen zu ermutigen, sich daraus zu erheben, diese zu überwinden und sich als kulturell „Entbundene“ am gesellschaftlichen Ganzen zu beteiligen.
In diesem Sinn deutet der Verlust des Begriffs der „Emanzipation“ darauf hin, dass wir kulturpolitisch gerade in die falsche Richtung unterwegs sind.
Um uns dort noch einmal in Auseinandersetzungen einlassen müssen, wie wir einander anreden sollen