Wimmer’s Kommentar
Michael Wimmer bezieht in seinen Kommentaren regelmäßig Stelllung zu den neuesten Entwicklungen in Kultur, Bildung und Politik.
Ergänzt werden diese durch eigene Begegnungen und Erlebnisse im Rahmen seiner Tätigkeit als Dozent, Autor und Berater.
Als die spätmoderne Marktwirschaft zur einzig verbliebenen Kulturform mutierte. Gedanken zu Carolin Amlingers und Oliver Nachtweys “Gekränkte Freiheit”
“Was bildest Du Dir ein? Zukunftsperspektiven? Was für eine Hybris! Nimm, was Du kriegen kannst. Es ist so wie es ist.”
Es sind Konversationen wie diese, die mir deutlich machen, was der Verlust von Zukunft nicht nur für den/die Einzelnen sondern für die Gesellschaft als ganzes macht.
Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey haben sich dazu in ihrer Studie “Gekränkte Freiheit” Gedanken gemacht. Sie sprechen vom Heraufkommen eines libertär-autoritären Charakters, der die je eigene Freiheit als einen unbedingten Wert setzt, der in sozialen Beziehungen nicht mehr abgeglichen oder gar beeinsprucht werden will.
Ihre Träger*innen werden zum Maß aller Dinge, um sich so jeglicher Alternative zu entledigen, ohne sich dabei noch einmal bewußt zu werden, bei der Gelegenheit jede Hoffnung auf eine gemeinsam gestaltbare Zukunft zu entsorgen. Die ersten Leittragenden sind all diejenigen, die an der gegenwärtigen Situation zunehmend leiden und doch keinen Ausweg mehr daraus erkennen können. Und das sind nicht wenige, die dann halt bei den falschen Versprechungen autoritärer Rechtspopulist*innen einen Halt suchen.
Gründe für diese Anmaßung finden die Autor*innen u.a. im Wegbrechen von traditioneller Herrschaftskritik, die im Dagegensein keine Orientierung und keinen Halt mehr zu bieten vermag. Der erbärmliche Zustand linker Parteien und sozialer Bewegungen, die einst aufgebrochen sind, um die Welt zu verändern und für sich ungebrochen ein kollektives Realitätsprinzip beanspruchen, weiß ein Lied davon zu singen.
Ergebnis ist ihnen das Aufkommen eines neuen, in libertären Formen auftretenden “Extremismus der Mitte”, der sich in seiner unstillbaren Selbstbestimmung als neuer Nabel der Welt begreift. Mit dem Überhandnehmen dieses neuen Archetypus gelingt es ihnen, den Zerfall des demokratischen Gemeinwesens inklusive dem Verlust eines – auf Gegenseitigkeit beruhenden – Solidaritätsverständnisses zu erklären.
Amlingers und Nachtweys Lösungsangebote bleiben allgemein, wenn sie wider die Alternativlosigkeit der herrschenden Verhältnisse plädieren und – ganz im Sinne von Adornos und Horkheimers “Dialektik der Aufklärung” – eine reflexive Distanzierung gegenüber dem eigenen (politischen) Tun einmahnen.
Einen Schritt zurücktretend kämen dann rasch zu einer Vorstellung von Individualismus, der sich nicht in eigener Befindlichkeit erschöpft – sondern erst in Kopräsenz mit anderen Individuen zu sich zu kommen vermag: Weil die Freiheit der Zukunft wie nie zuvor der Solidarität des Miteinander starker Inividuen bedarf, die um ihre Begrenzheit wissen.
Wie wäre es also, nochmals in Alternativen zu denken,Optionen offen zu halten und sich nicht nur in zunehmender Agggression zu bemitleiden bei der Aufrechterhaltung des Status quo.
Der Auftrag einer aufgeklärten Gesellschaft, im Zusammenwirken ein Tor in lebenswerte und nicht nur akpokalyptische Zukünfte aufzustoßen, er bleibt als uneingelöste Alternative bestehen. Und damit bleibt die Hoffnung bestehen, auf wieder einmal auf einverständige Partner*innen beim Überlegen von Zukunftsperspektiven zu finden.
Wie das gesellschaftlich funktionieren könnte, dazu haben Amlinger und Nachtwey einen hellsichtigen Beitrag geliefert: https://www.perlentaucher.de/buch/carolin-amlinger-oliver-nachtwey/gekraenkte-freiheit.html