Wimmer’s Kommentar
Michael Wimmer bezieht in seinen Kommentaren regelmäßig Stelllung zu den neuesten Entwicklungen in Kultur, Bildung und Politik.
Ergänzt werden diese durch eigene Begegnungen und Erlebnisse im Rahmen seiner Tätigkeit als Dozent, Autor und Berater.
Wenn Unrecht als “normal” verhandelt wird – Eine Gegenrede von Omri Boehm “Radikaler Universalismus”
Die europäischen demokratisch verfassten Öffentlichkeiten haben sich daran gewöhnt, dass an den südlichen Grenzen des Kontinents jährlich mehrere tausend Menschen qualvoll und elendiglich zugrunde gehen; sie ertrinken auf den Fluchtrouten des Mittelmeers.
Die Diskussion darüber erschöpft sich in politischen Vorschlägen selbst in liberal verfassten Gesellschaften, die Grenzen Europas möglichst hermetisch zu schließen, um die flüchtenden Menschen ihrem Schicksal zu überlassen. Das Ergebnis ist die zunehmende Illiberalisierung, Entdemokratisierung, ja Autoritarisierung der nationalen Gesellschaften, die ihren Wohlstand wichtiger nehmen als die Not von anderen.
Da tut es gut, einen Blick in Omni Boehms Essay “Radikaler Universalität – Jenseits von Identität” zu werfen. Er erinnert darin an die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung, nach der “alle Menschen gleich geschaffen” worden sind. Eine Ungeheuerlichkeit inmitten unserer Normalität.
Entlang scheinbar so unterschiedlicher Bezüge wie der Verwässerung dieser so fundamentalen Erklärung im Zuge der Formulierung der amerikanischen Verfassung, der Relektüre von Kants Aufklärungsanspruch und der Erzählung von Abrahams Opferung seines Sohnes Isaak im Alten Testaments formuliert Boehm den Anspruch einer philosophisch begründeten Wahrheit menschlicher Existenz, die sich hinter jedem demokratischen Konsens unterschiedlicher Interessen erhebt: Wir sind alle gleich erschaffen. Und es gibt niemanden, keine menschliche Instanz und keinen Gott, der diese Wahrheit, die uns überhaupt erst zu Menschen macht in Frage stellen dürfte.
“Es gibt kein Recht auf Gehorsam”, so hat es Kant formuliert. Boehm stellt einsichtige Bezüge zu seiner Lesart der Weigerung des Gründers der monotheistischen Religionen Abraham, seinen Sohn Gott als Instanz der Gerechtigkeit als Brandopfer darzubringen, her.
Und macht damit deutlich, dass es kein Recht des Menschen gibt, sich einzufinden in die Ergebnisse einer, wie immer auch demokratisch verfassten pragmatischen Politik, die Gerechtigkeit verspricht und doch Ungerechtigkeit zulässt.
Ein radikalerer und gerade dadurch sinnstiftenderen Anspruch an menschliche Existenz lässt sich nicht formulieren. Weil es Widerstand, und sei es gegen den Konsens von Mehrheiten, zum einzig gangbaren Lebensweg erklärt, wenn es darum geht, die Idee des Menschseins nicht aufzugeben.
In abschließenden Bemerkungen befasst sich Boehm auch mit dem aktuellen Nahost-Konflikt. Auch dort erhebt sich sein “Radikalier Universalismus” über die Identitäts-Vorstellungen der verfeindeten Gruppen als Juden oder als Palästinenser. Sein Vorschlag geht nicht in Richtung einer Zwei-Staaten-Lösung. Sondern in Richtung einer multi-nationalen Staatlichkeit, in der ihre Bürger*innen ihre oktroyierte Identität zur Privatsache erklären, um sich als “gleich Geschaffene” zu erkennen.
Der Text ist “unerhört”. Nein, mit ihm wird noch kein Menschenleben im Mittelmeer gerettet. Aber zumindest der Anspruch wachgehalten, dass wir dafür eine unverbrüchliche Verpflichtung haben.
Und zumindest dafür ist der Text eine große Ermutigung.