Wimmer’s Kommentar
Michael Wimmer bezieht in seinen Kommentaren regelmäßig Stelllung zu den neuesten Entwicklungen in Kultur, Bildung und Politik.
Ergänzt werden diese durch eigene Begegnungen und Erlebnisse im Rahmen seiner Tätigkeit als Dozent, Autor und Berater.
Über die Radikalität von Normalität am Beispiel des Films “Zone of Interest”
Es war 2004 anlässlich eines Spazierganges in Millstatt. Haiders FPÖ hatte in Kärnten gerade einen Wahlsieg mit 42,5% der Stimmen eingefahren. Und mich bekam der Gedanke, dass damit jeder Zweite, der mir auf der Strasse begegnete, eine rassistische, antisemitische und antidemokratische Partei gewählt hatte.
Alles ganz normale Leute, die es offenbar doch ganz normal gefunden haben, dass am Ulrichsberg die Nazi-Zeit verherrlicht wurde und der Landeshauptmann die Ehre der alten Kämpfer beschworen hat.
Auch in Jonathan Glazers gerade mit einem Oscar gewürdigten Film “Zone of Interest” wird Normalität beschworen. Die Familie des Lagerleiters von Ausschwitz Rudolf Höss hat sich direkt an der Mauer eine Idylle errichtet, um dort ein ganz normales, naturnahes (weil das der Führer so will) Leben zu führen. Und dabei gelernt, alles auszublenden, was diese Normalität irritieren könnte.
Und mich überkommt der Gedanke, ob das Leben der Familie Höss nicht einfach ein Extrem von Normalität darstellt, in die wir alle gezwungen sind. Mit dem einzigen Unterschied, dass wir nicht direkt an der Mauer zur Unmenschlichkeit wohnen müssen, sondern ein paar hundert Kilometer entfernt von dem, was die Welt zunehmend prägt: äußerste unmenschliche Anormalität.
Der Film bezieht seine Wirkung dadurch, dass er die Hölle auf Erden gerade nicht zeigt, sie uns hinter dem Schein von Normalität aber umso deutlicher spüren lässt. Und mich überkommt die Frage: Was wäre, wenn wir – die Normalen – uns allesamt in einem Film befinden, der uns darüber hinwegzutäuschen versucht, was jenseits der Mauer unseres Vortellungsvermögens stattfindet?
In gewisser Weise wiederholt der Regisseur Glazer Hannah Arendts These von der Banalität des Bösen, die sie anhand von SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann festzumachen versucht hat.
Diese Form der Banalität ist das eigentlich Verstörende an “Zone of Interest”: Rudolf Höss als Herr über die millionenhafte Entscheidung von Leben oder Tod erscheint als armes, an die aufgezwungene Normalität des Nazi-Terros angepasstes Würschtel, der sich in nichts vom Durchschnitt aller anderen Menschen unterscheidet. Er erscheint wie Du und ich: Gebrochen von den herrschenden Verhältnissen und opportunistisch in seiner Reaktion – und damit immerhin als Warnung an uns alle, die Gefährlichkeit von Normalität zu erkennen: In Ausschwitz, in Kärnten, entlang der aktuellen Kampagne der ÖVP ( https://orf.at/stories/3323499/ )