Wimmer’s Kommentar
Michael Wimmer bezieht in seinen Kommentaren regelmäßig Stelllung zu den neuesten Entwicklungen in Kultur, Bildung und Politik.
Ergänzt werden diese durch eigene Begegnungen und Erlebnisse im Rahmen seiner Tätigkeit als Dozent, Autor und Berater.
24/07/2024
Die Kranken und die Kunst in diktatorischen Regimen
In seiner Studie “Wahn und Wunder” unternimmt der Guardian-Aussenpolitikchef Charlie English den Versuch, die Aspekte “Kunst von Schizophränen” und “Moderne Kunst” entlang der nationalsozialistischen Kulturpolitik nachzuzeichnen.
Einerseits standen die Nazis in einer schrecklichen Tradition er Vernichtung “unnormalen” Lebens und damit verbunden all dessen, was die von sol hen Zuschreibungen Betroffenen hervorgebracht haben. Und andererseits sahen sie sich als Verteidiger eines traditionellen mimetischen Kunstbegriffs, um so jeden Versuch seiner Überwindung als “entartet” zu denunzieren.
Die Konsequenzen zeigten sich in der industriellen Vernichtung von Menschen, denen eine psychische Erkrankung zugeschrieben werdne konnte. Und in der Zuschreibung “Moderner Kunst” als Asdruck geistiger Abnormität, die geeignet wäre, den gesunden deutschen Volkskörper zu beschädigen.
English zeichnet minutiös die Vernichtungsgeschichte von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung nach, obwohl oder gerade weil sie über eine besondere ästhetische Ausdrucksfähigkeit verfügt haben.
Und er erzählt von den kulturpolitischen Ausgrenzungstrategien der Nazi-Ideologen, die es drauf angelegt haben, jede Form der ästhetischen Modernität zu eliminieren.
Die Paradoxie dieses Versuchs zeigt sich beispielhaft in der Ausstellung “Entartete Kunst”, die dazu gedacht war, mobilisierend für die nationalsozialistische Ideologie zu wirken. Und doch zur meistbesuchten Ausstellung geworden ist, um so “Moderner Kunst” eine breite Öffentlichkeit zu geben, die sie sonst wohl nie erhalten hätte.
Dass sich die ausgrenzenden Wirkungen weit über das Kriegsende hinaus bis in die 1960 kulturpolitisch nachvollziehen lassen wird ebenso deutlich wie das Anhalten eines “gestörten Verhältnisses” breiter Teile der Gesellschaft gegenüber “Moderner Kunst”, das bis heute fortwirkt.
English gibt einen anschaulichen Eindruck in den Gewaltcharakter des Nazi-Regimes ebenso wie in seine Widersprüchlichkeit, die höchste Modernität der Organisationsform mit inhaltlicher Reaktion bis hin zur tödlichen Ausgrenzung der Stigmatisierten vereint hat.
Welch große Bedeutung die Nazis der Kulturpolitik samt ihren tödlichen Wirkungen beigemessen hat, könnte uns nachdenklich machen angesichts des Wiederaufstiegs rechtsextremer Tendenzen.