Wimmer’s Kommentar
Michael Wimmer bezieht in seinen Kommentaren regelmäßig Stelllung zu den neuesten Entwicklungen in Kultur, Bildung und Politik.
Ergänzt werden diese durch eigene Begegnungen und Erlebnisse im Rahmen seiner Tätigkeit als Dozent, Autor und Berater.
Die Geschichte vom Tisch und dem Streit, wer an ihm sitzen darf
Aladin El-Mafaalan – Und nach welchem Rezept gekocht werden soll
El-Mafaalani ist ein sympathischer Sprecher. Als Professor für Erziehung und Bildung in der Migrationsforschung in Osnabrück gelingt es ihm immer wieder, in seinen Beiträgen dem Gespräch über Zuwanderung und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen neue Seiten abzugewinnen. Das stimmt auch für seine Einschätzung, dass gelingende Integration von Migrant*innen nicht zu weniger, sondern zu mehr Konflikten führt. Und dass das eigentlich gut ist.
Vergessen wir einmal die unsägliche Podiumsdiskussion beim Kongress „Die Kunst der Demokratie“, die der Moderator völlig an die Wand hat fahren lassen. Routiniert zog El-Mafaalani seinen Joker aus dem Ärmel und zeichnete ein Bild, das sich – weil es so einleuchtend aussieht und den Zuhörer*innen uneingeschränkte Zustimmung entlockt – mittlerweile in jedem seiner Auftritte findet.
Und bei genauerem Nachdenken doch mehr Fragen aufwirft als es Antworten (oder gar Handlungsanleitungen) gibt:
Geht es nach El-Mafaalani dann hätten wir uns die Gesellschaft als einen Speisesaal vorzustellen, in dem die große Mehrheit der Menschen auf der Erde sitzt. In seiner Mitte aber erhebt sich ein Tisch, an dem weitgehend homogene Eliten Platz genommen haben, um über das Essen, die Zubereitung und wohl auch die Aufteilung verhandeln.
Diverse Gesellschaften würden sich u.a. dadurch auszeichnen, dass den traditionellen Entscheidungsträger*innen ihr Platz zunehmend streitig gemacht wird von all denjenigen, die bislang zu kurz gekommen sind und endlich auch einen Platz am Tisch beanspruchen. Das sorgt für gehörigen Konflikt, wenn es zuerst um die schiere Neuaufteilung des Kuchens geht. Mittlerweile aber hätten sich die Kräfteverhältnisse am Tisch so sehr verschoben, dass auch darüber gestritten wird, was überhaupt auf den Tisch kommen soll und welche Rezepturen zu verwenden sind.
Erstaunlich: Die am Boden sitzen bleiben in diesem Bild weitgehend unterbelichtet.
Das Bild zeigt sehr anschaulich, wie sehr sich die Konkurrenzverhältnisse innerhalb der herrschenden Eliten verschärft haben. Ja da sind neue Fraktionen, die den Machtanspruch stellen, dazu gekommen. Und ja, zur Disposition stehen nicht nur Verteilungsfragen, sondern wohl auch das, was unter welchen Bedingungen verteilt werden soll (Geht es nach den aktuellen sozialen Ungleichheitsstudien dann sollten wir diesbezüglich freilich nicht allzu optimistisch sein).
Zumindest zwei Aspekte aber bleiben mir in diesem Bild ausgeklammert. Der eine scheint mit in der Frage zu liegen, ob der eine Tisch samt seiner Belegschaft überhaupt noch beanspruchen kann, für alle anderen auf dem Boden zu sprechen. Mithin ein gemeinsam verbindliches Allgemeines zu repräsentieren, das ausreichend Verbindlichkeit für die nicht am Tisch sitzende große Mehrheit schafft.
Wenn ich die aktuellen Ergebnisse der Parlamentswahlen in Frankreich beobachte, dann kommen mir Zweifel: Mehr als die Hälfte der Franzos*innen ist nicht wählen gegangen; bei den jungen Menschen waren es sogar 70%, die es vorgezogen haben, sich für keine Repräsentation an einem gemeinsamen Tisch auszusprechen.
Was mich zu einer zweiten Annahme führt: Sie lässt mich vermuten, dass es schon lange nicht nur einen Tisch gibt. Sondern deren viele. Die einen mögen egalitärer organisiert sein, andere hoch selektiv. Gemeinsam aber ist ihnen, dass den an ihnen Sitzenden das Menu an ihren Tischen wesentlich wichtiger ist als was an den anderen gerade verkostet wird. Ein paar „Flaneure“ mögen schon mal von einem Tisch zum anderen wandern. Für die meisten aber sind „ihre“ Tische die entscheidenden Bezugspunkte, an denen sie sich orientieren. Und nicht ausgerechnet der e i n e Tisch, an denen Rezepte verhandelt werden, die mit ihren Wünschen und Bedürfnissen immer weniger zu tun haben.
Um jetzt noch die Kurve zur Kulturpolitik zu kratzen: Das Dilemma, das El-Mafaalani mit seinem Bild eher noch vergrößert als aus der Welt schafft besteht darin, dass (staatliche) Kulturpolitik nach wie vor gebannt auf diesen e i n e n Tisch starrt, während alle anderen von ihr systematisch vernachlässigt werden.
Im Ergebnis hat sich die diverse Gesellschaft eine unübersehbare Anzahl an Subkulturen samt ihren oft sehr informellen Strukturen aufgesplittert. Diese existieren zum Teil isoliert nebeneinander, zum Teil überlagern sie sich, bestehen in Beziehung oder konkurrenzieren sich. Und Kulturpolitik wird nicht umhinkommen, den Blick zu weiten und lieber früher als später möglichst viele in den Blick zu nehmen, um einen Ordnungsrahmen für ein gedeihliches Miteinander zu schaffen.