Wimmer’s Blog
Michael Wimmer schreibt regelmäßig Blogs zu relevanten Themen im und rund um den Kulturbereich.
Anhand persönlicher Erfahrungen widmet er sich tagesaktuellen Geschehnissen sowie Grundsatzfragen in Kultur, Bildung und Politik.
Konfrontation statt Repräsentation
Kommentarsammlung von Michael Wimmer zum Symposium „Konfrontation statt Repräsentation“ vom 20. Mai 2021
Einladung zur Teilnahme, besser Mitwirkung
In der Vorbereitung zum Symposium „Konfrontation statt Repräsentation“ bin ich auf einen lesenswerten Beitrag von Jan Sowa „It‘s Political Economy, Stupid“ gestoßen. In dem macht er u.a. auf den Unterschied zwischen Parlamentarismus und Demokratie aufmerksam. Ersterer erschöpfe sich im Zugeständnis an die Menschen, von Eliten ihrer Wahl repräsentiert zu werden. Die Demokratie in ihrem vollen Wortsinn verlangt nach politischen Subjekten, die ihr Geschick bereit sind, selbst in die Hand zu nehmen. Daraus ergäben sich nach Sowa ganz unterschiedlicher Vorstellungen von „Partizipation“, eine liberale Interpretation würden die herrschenden Formen der politischen Repräsentation nicht in Frage stellen, sondern entlang eines zivilgesellschaftlichen Engagements ergänzen. Eine progressive Interpretation hingegen kommt um die Machtfrage nicht herum: „The progressive idea of participation does not treat participation as a mechanism complementary to political representation, but as a major game changer in the political game as such.“
Die Parallelen zum Kulturbetrieb liegen auf der Hand. Auch hier haben wir es mit einer Auswahl von kulturellen Eliten zu tun, die für sich beanspruchen, „Kultur“ zu repräsentieren. Die Bürger*innen können sich dann entscheiden, ob sie sich mit ihrem kulturellen Verhalten mehr zur einen oder zur anderen Künstler*innen-Fraktion hingezogen fühlen und ihr Angebot konsumieren.
Was aber, wenn „Kultur“ allen gehört? Wenn Bürger*innen in die Lage versetzt werden, den althergebrachten Kulturbetrieb noch einmal grundsätzlich in Frage zu stellen, „Kultur“ selbst in die Hand zu nehmen, sich nicht mehr auf die Funktion von „Besucher*innen beschränken zu lassen, sondern an der Ausgestaltung ihrer kulturellen Umwelten aktiv mitwirken zu wollen? Sowa versucht den Brückenschlag zwischen politischer und kultureller Partizipation, wenn er von den Auswirkungen von „Occupy Movement“ auf den Kulturbetrieb berichtet. Er verweist u.a. auf die amerikanische Künstler*in Martha Rosler, die sich intensiv mit einer Reihe von Occupy Initiativen beschäftigt hat.
Wir erfahren, dass es mittlerweile eine Vielzahl an Initiativen (u.a. Valle Theater in Rom oder Embros in Athen) gibt, die versuchen, kulturelle Partizipation vom Kopf auf die Füße zu stellen. Im österreichischen kulturpolitischen Diskurs scheint dieses Thema noch nicht angekommen. Wäre da nicht Airan Berg, der in diesen Tagen mit dem Slogan „Weil Kultur allen gehört“ das Projekt „Occupy Culture“ vorgestellt hat. Und auch die deutsche kulturpolitische Gesellschaft KuPoGe lädt mit dem Projekt „Kultur Gestalten“ Bürger*innen dazu ein, Künstler*innen auf Augenhöhe zu begegnen und als „Auftraggeber*innen“ aufzutreten.
Entgrenzung oder warum wir uns auch kulturpolitisch von alten Genregrenzen verabschieden sollten
Im dieswöchigen profil findet sich im Beitrag „Und was hören Sie so?“ die Analyse: „Wer im Internet aufwächst, kennt keine Schubladen mehr, weil er – oder sie oder they – keine Schranken kennt.“ Daraus folgt der Autor Sebastian Hofer: Künstler*innen sind nicht mehr so einfach einem eindeutigen Genre zuzuordnen. Unter anderem auch deshalb, weil ja auch Menschen immer weniger auf unverrückbare Identitäten bestehen und sich auf endgültige Positionen beziehen können.
Das war in den Jahren der Errichtung des Kunst- und Kulturfördersystems noch ganz anders. Es orientierte sich streng an sakrosankten Genre-Grenzen, unterschied streng nach Bildender Kunst, Film, Literatur, Musik und Theater. Dazu kam der Tanz, während Design, Architektur, Fotografie, Mode oder Medienkunst noch ein paar Jahre warten mussten, um vom Staat als eigene Förderkategorien anerkennt zu werden. Eine erstmalige Irritation der Systematik brachte der Auftrag des Parlaments an die Verwaltung, sich ab Anfang der 1990er Jahre auch um regionale Kulturinitiativen zu kümmern, mit sich. Traditionell nicht auf ein bestimmtes Genre festlegbar mutierte die Förderstelle zu einer Art Sammelbecken, um alle Arten von genreübergreifenden und transdisziplinären Projekten berücksichtigen zu können. Aber in allen anderen Abteilungen überwog nach wie vor die Notwendigkeit einer klaren Zuordnung in die eine oder andere Kunstform, selbst dann, wenn die Angebotsvielfalt des Kunstbetriebs in alle Richtungen auszufransen begann. Die damit verbundene Schwerfälligkeit des Apparates, auf aktuelle Kunstströmungen adäquat reagieren zu können, verstärkte ungewollt den strukturkonservativen Charakter seiner Programme. Eine verhängnisvolle Umkehrung der ursprünglichen Absichten, wenn staatliche Kunstförderung einst aufgebrochen ist, sich in besonderer Weise um neue Formen des Kunstschaffens zu bemühen.
Auf überraschende Weise zeigt sich, dass ausgerechnet die Folgen der Pandemie die Logik der Kunst- und Kulturförderung zum Tanzen bringen. Da sind zum einen die diversen Unterstützungsprogramme, um möglichst viele Künstler*innen halbwegs unbeschadet über die Runden zu bringen.
Zum anderen aber ist es vor allem die Digitalisierungsoffensive zusammen mit der Entwicklung neuer Settings und Formate, die auch die Kunst- und Kulturförderung aus der Reserve lockt. So haben nahezu alle Gebietskörperschaften angesichts des aktuellen Transformationsprozesses neue Programme ausgeschrieben. Sie richten sich dezidiert nicht an ausgewählte Kunstsparten, sondern laden – ganz im Gegenteil – dazu ein, „neue innovative Ansätze, Experimente und neue künstlerische Praktiken sowie sich in Projekten im inter- bzw. transdisziplinären Feld zu versuchen“. Dabei wird auch der Kontext, in dem das künstlerische Geschehen stattfindet – also etwa vermehrt im Freien – neue Aufmerksamkeit zuteil.
Eine andere Programmschiene trägt vor allem dem Umstand Rechnung, dass immer weitere Teile der kulturellen Kommunikation sich in den digitalen Raum verlagern, in dem – siehe oben – die alten Genregrenzen längst gefallen sind (Kunst und Kultur im digitalen Raum).
Ein aktueller Überblick über die neue Generation der Förderprogramme findet sich auf der Plattform der IG Kultur.
Man kann die jüngsten Ausschreibungen als Versuchsballone lesen, um bislang unberücksichtigt gebliebene künstlerische Initiativen verstärkt einzubeziehen und so auf eine Belebung des Kulturbetriebs zumindest an seinen Rändern zu hoffen. Man kann sie aber auch als ein Signal interpretieren, um ein in die Jahre gekommenes Kunst- und Kulturfördersystem auf neue Beine zu stellen, kategoriale Trennungen zu überwinden und damit näher an ein weitgehend „entgrenztes“ kulturelles Geschehen zu rücken, das mit überkommenen Genre-Grenzen schon lange nichts mehr zu tun hat.
Nicht zu unterschätzen sind dabei die Auswirkungen auf die künstlerische Ausbildung, die vor allem im performativen Bereich ungebrochen auf starre Grenzziehungen pocht und damit den Studierenden viel Gestaltungsspielraum nimmt, sei hier nur angemerkt.
Vermittlung, bitte übernehmen Sie!
Heute gibt es kaum mehr Kultureinrichtungen, die nicht über Vermittlungsprogramme verfügen, die sich an unterschiedliche Zielgruppen richten. Der Schwerpunkt liegt zumeist auf jungen Menschen, die direkt oder indirekt für die Angebote der jeweiligen Einrichtungen möglichst dauerhaft interessiert werden sollen. Entstanden ist so ein neuer Berufsstand von Vermittler*innen, die – zumeist getrennt in verschiedenen Sparten – universitär qualifiziert werden.
Dieser positive Trend kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Vermittlung in vielen Fällen ungebrochen als ein Randphänomen gesehen wird und damit als ein irgendwie notwendig gewordene Zusatzaufgabe, um dem Kerngeschäft der Präsentation von Kunst besser gerecht werden zu können. Dies zeigt sich beinhart in den Beschäftigungsverhältnissen von Vermittler*innen, die in der Regel weit hinter denen der Kernbelegschaften hinterherhinken. Auf ihren Randplätzen werden Vermittler*innen nur selten in die strategischen Entscheidungsprozesse einbezogen, ihr Job beschränkt sich in der Regel darauf, das von entscheidungsmächtigeren Kolleg*innen erstellte künstlerische Programm an diejenigen zu vermitteln, die traditionell nicht zum Stammpublikum gehören (Schüler*innen, „sozial Benachteiligte“, „Bildungsferne“, „Migrant*innen“, „Geflüchtete“,…..).
Dieser status quo widerspricht eigentlich kulturpolitischen Weichenstellungen, die bereits in den 2000er Jahren getroffen worden sind und z.B. in den Museumsordnungen „Vermittlung“ zur vorrangigen Aufgabenstellung erklärt haben. Mehr als zehn Jahre später zeigen sich die institutionellen Beharrungskräfte, die sich schwertun, von einer Logik der Präsentation in eine Logik der Kommunikation mit einem diversen Publikum überzugehen.
Eine zentrale kulturpolitische Aufgabe besteht heute darin, einen Perspektivenwechsel zu versuchen und Kultureinrichtungen vorrangig aus der Sicht der potentiellen Nutzer*innen zu verhandeln. Kultureinrichtungen würden so zu einem Ort der kulturellen Öffentlichkeit, in der sich die ganze Vielfalt der Gesellschaft widerzuspiegeln vermag. In einem solchen Setting würden Besucher*innen nicht auf ihre Rolle als passive Konsument*innen reduziert werden, sondern wären ein gleichberechtigter Teil des Geschehens und könnten an der Ausgestaltung von Kultur aktiv mitwirken.
Bei der Neujustierung des Verhältnisses zwischen Präsentation und Kommunikation, zwischen Künstler*innen und ihrem Publikum käme dem Vermittlungsaspekt eine entscheidende Funktion zu. Konkret würden Vermittler*innen, die sich zur Zeit noch gerne als Agent*innen und Übersetzer*innen des künstlerischen Programms verstehen, zu Anwält*innen von Menschen mutieren, die einander in Kultureinrichtungen begegnen, die ein Interesse aneinander haben, die sich mit zentralen Problemen unserer Zeit auseinander setzen und nach gemeinsamen Lösungen suchen wollen. Kunst kann dafür eine herausragende katalytische Funktion einnehmen.
Die Neubegründung des Kulturbetriebs als Ort einer kulturellen Öffentlichkeit geschieht nicht von allein. Sie stellt die Machtfrage, wenn bislang die Vertreter*innen der Repräsentation die entscheidenden Positionen innehaben und dementsprechend wenig Interesse zeigen, daran etwas Grundlegendes zu ändern. Sie kann nur gelingen im Rahmen einer Politisierung der Vermittlung. Den Vermittler*innen, die sich heute noch ihre institutionelle Randständigkeit mit dem Versprechen auf Selbstverwirklichung abkaufen lassen, um nach einigen Jahren der Praxis das Feld enttäuscht zu räumen, kommt – verschärft durch die Auswirkungen der Pandemie – ein zentraler kulturpolitischer Auftrag zu. Ihre Bereitschaft, sich vom Rand ins Zentrum durchzukämpfen, wird entscheidend für die Weiterentwicklung des Kulturbetriebs sein, der in der Vermittlung eine seiner zentralen Aufgaben hat.
Dies hätte nicht zuletzt Auswirkungen auf die Tätigkeit von Künstler*innen selbst. Sie könnten ihre zunehmend verzweifelten Versuche der Selbstdarstellung (samt begleitender Anklage, warum diese in der Gesellschaft nicht gebührende gewürdigt würde) hinter sich lassen, um stattdessen vielfältige Kommunikations- und Interaktionsprozesse zu stiften, die sie wie niemand sonst als Vermittler*innen mit ihrer ästhetischen Expertise in ganz besonderer Weise zu begleiten vermögen.
Der Kulturbetrieb als Avantgarde sozialer Ungleichheit oder wie wär‘s mit etwas mehr Solidarität?
In der Wochenendausgabe der Wiener Zeitung konstatieren Andreas Stadler und Léon de Castillo eine „Zwei-Klassen-Gesellschaft innerhalb der Kunst- und Kulturszene“. Die ungleich verteilten Unterstützungsmaßnahmen der Bundesregierung hätten diese Tendenz noch einmal verschärft: Mit der Unterstützung von SVS-Versicherten hätte die Bundesregierung vor allem den etablierten Teil der Szene über die Krise gerettet. Darüber hinaus würden junge Künstler mit wohlhabenden Eltern die sozialen Hürden meistern. Alle anderen aber wären darauf verwiesen, ihre Talente sausen zu lassen und Jobs bei Lebensmittelketten und Essenslieferanten anzunehmen – oder sich gleich zu Pflegekräften umschulen zu lassen.
Die Akteur*innen des Kulturbetriebs sehen sich gerne als Seismographen der Gesellschaft. Folgt man der Interpretation von Stadler und de Castillo, dann erweist sich der Kulturbetrieb nachgerade als Avantgarde sozialer Fehlentwicklungen, wenn sich in ihm die sozialen Spaltungstendenzen fast schon idealtypisch zeigen. Entlang dem Motto „The winner takes it all“ steht ein kleiner hochprivilegierter und in der Krise von der Regierung nochmals besonders begünstigter Teil (die Vorreihung der Wiener Philharmoniker bei der Impfung sind da nur ein, wenn auch besonders beredtes Beispiel) die große Mehrheit an vor allem freischaffenden Künstler*innen gegenüber, die mit einem medianen Jahreseinkommen von rund Euro 5.000€ schon vor der Krise nicht über die Runden gekommen sind. Die zunehmend neoliberale Ausrichtung auch der öffentlichen Kunst- und Kulturfinanzierung hat ihr Übriges dazu getan, einen brutalen Konkurrenzkampf um Ressourcen ebenso wie um öffentliche Aufmerksamkeit zu entfachen, der einige wenige Gewinner*innen und eine Vielzahl von Verlierer*innen schafft. Die Pandemie hat diese Entwicklung noch einmal verschärft.
Die Kulturpolitik hat das ihre dazu beigetragen, diese Form der staatlichen Produktion von Ungleichheit innerhalb des Kulturbetriebs in bewährter „Divide-et-impera“- Manier auf immer neue Weise unter den Teppich zu kehren. Den Diskriminierten wurde stereotypisch empfohlen, „nur ja keine Neiddebatte“ zu beginnen; eine Empfehlung, die leider auch die sonst so kämpferische Wiener Kulturstadträtin Veronika Kaup-Hasler in ihrem jüngsten Standard-Interview wiederholt.
Und doch ist zu vermuten, dass wir nach der Krise an der Verteilungsfrage nicht herumkommen werden, und dass ihre Bearbeitung ebenso mit dem „Schlachten heiliger Kühe“ (Pierre Boulez anno 1970) jedenfalls mit Konflikten verbunden sein wird. Das bewährte Konzept in der Wachstumsgesellschaft, wenigen viel zu geben und den vielen wenig zu geben, ist an seine Grenzen gekommen. Die Bewahrung von weitgehend tabuisierten Gewohnheitsrechten, die die einen begünstigen und die anderen benachteiligen, wird uns keinen Weg aus der kulturpolitischen Krise weisen. In diesem Zusammenhang hat der Filmregisseur Kurt Brazda die Forderung nach einer alle Beschäftigungsformen umfassenden gewerkschaftlichen Vertretung in Erinnerung gebracht und somit eine Möglichkeit, nicht nur gemeinsame Interessen besser vertreten zu können, sondern auch untereinander Solidarität zu üben.
Die Frage der Ungleichheit betrifft aber nicht nur die Produktionsseite; sie betrifft in zumindest gleicher Weise die Nutzer*innen-Seite. Alle verfügbaren empirischen Daten zu den Nutzungsgewohnheiten deuten darauf hin, dass staatliche Fördermaßnahmen in erster Linie die bereits vom Leben Begünstigten noch einmal begünstigt und damit eine Form der Umverteilung von unten nach oben bewirkt. Das staatlich (mit-)finanzierte Kunst- und Kulturangebot richtet sich in erster Linie an einen (wenn auch schrumpfenden) Mittelstand, während all diejenigen, die vom Leben benachteiligt wurden, auf den Markt verwiesen werden. Offenbar genügt die Zugehörigkeit der meisten kulturpolitischen Entscheidungsträger*innen zu diesem Mittelstand, um keinerlei Vorstellung herstellen zu können, was es für sozial nicht Privilegierte heißt, aktiv am kulturellen Leben teilzunehmen bzw. was der Staat tun könnte, um ihre Partizipationschancen signifikant zu erhöhen. Also erschöpfen sie sich auf gutgemeinte Zurufe an den Kulturbetrieb, sich doch vermehrt um diverse „Minderheiten“, „sozial Benachteiligte“, „Bildungsferne“, „Migrant*innen“ oder „Geflüchtete“ zu kümmern – um doch an der Zusammensetzung des Publikums nichts zu ändern.
Eine Möglichkeit wäre, den Kulturbetrieb als Ort einer kulturellen Öffentlichkeit, der die Diversität der Gesellschaft als Ganzes widerspiegelt, neu zu positionieren. Als ein Setting, in denen unterschiedliche soziale Gruppen aufeinandertreffen, sich mit unterschiedlichen Ansprüchen konfrontieren, Konflikte austragen, einander besser kennen lernen, neue Beziehungen herstellen und sich in Solidarität einüben.
Am 19. Mai wird es soweit sein. Spätestens zu diesem Zeitpunkt können Kultureinrichtungen ihren Betrieb wieder aufnehmen und Publikum im Rahmen von Live-Acts bei sich begrüßen. Für Künstler*innen ebenso wie für das Management geht damit – zumindest fürs Erste – eine schier unerträgliche lange Phase des Wartens zu Ende; die Hoffnung, damit wieder auf Normalbetrieb schalten zu können, ist groß.
In den langen Monaten des Lockdowns war viel von ungeduldigen Besucher*innen die Rede, die endlich wieder ihre geliebten Häuser besuchen wollten. Die Kultureinrichtungen haben sich auf sie intensiv vorbereitet; sie haben geplante Projekte umdisponiert, neue begonnen, weiter geplant, weiter geprobt. Und jetzt sitzen sie auf einem Berg an Programmangeboten, mit dem es gilt, den Wahrheitsbeweis anhand von möglichst hohen Eintrittserlösen anzutreten.
Ein Blick auf die Verkaufszahlen zeigt, dass bislang das Publikumsinteresse überschaubar ist. Für die meisten der angebotenen Produktionen gibt es noch Karten; selbst prominent besetzte Premieren sind – trotz COVID-19-bedingtem beschränktem Platzangebot – bislang nicht ausverkauft. Ein Grund mag darin liegen, dass viele, vor allem ältere Menschen der neuen Freiheit noch nicht trauen, sie sich in dieser Übergangszeit vor Ansteckung fürchten und sich keiner unnötigen Gefahr aussetzen wollen. Ein anderer, dass die 15 Monate Lockdown doch nachhaltige Wirkungen auf das kulturelle Verhalten ausgelöst haben; dass Menschen die Vorteile der digitalen Vermittlung erkannt haben und sie sich nicht mehr um jeden Preis den rigiden Regeln beim Besuch einer Kulturveranstaltung unterwerfen wollen.
Noch entscheidender aber könnte sein, dass mit der Öffnung aller Kultureinrichtungen von einem Tag auf den anderen einfach ein Überangebot auf die potentiellen Besucher*innen niedergeht, das ihre Bereitschaft zur Nutzung bei Weitem übersteigt. War schon vor der Pandemie da und dort von einer „Überhitzung“ des Sektors die Rede, so spricht vieles dafür, dass ab dem 19. Mai die traditionelle Angebotsorientierung des Sektors noch einmal weiter unter Druck geraten wird.
Nachdem sich die Akteur*innen unter dem Eindruck des Lockdowns zu verschiedentlichen Solidaritätsbekundungen zusammengefunden haben, steht jetzt zu befürchten, dass ein erbarmungsloser Wettbewerb um öffentliche Aufmerksamkeit einsetzen wird. Dies umso mehr, als bereits vor dem Ausbruch der Pandemie mehr als 2/3 der für den Betrieb notwendigen Mittel auf den kompetitiven Kulturmärkten erwirtschaftet werden mussten (europaweit sind es laut der Studie von Ernst & Young „Rebuilding Europe“ 90%), auf denen sich der Staat immer schwerer tut, wirksame komplementäre Maßnahmen zu setzen.
So konnten die staatlichen Unterstützungsmaßnahmen zur Sicherung des Sektors das Auseinanderdriften zwischen denen, die dank Kurzarbeit die Krise weitgehend unbeschadet überstanden haben, und denjenigen, die sich in ihrer Existenz bedroht sahen, nur wenig beeinflussen, so spricht jetzt vieles dafür, dass die verschärften Wettbewerbsbedingungen einen weiteren Aderlass, vor allem bei den freien, traditionell nur schwach abgesicherten Initiativen bewirken werden. Viele ihrer Betreiber*innen werden, ob sie wollen oder nicht, in andere Sektoren abwandern, vor allem dann, wenn ihr sozialer Background ihnen keine Sicherheit ihrer künstlerischen Existenz ermöglicht. Dies ist umso bedauerlicher, wenn gerade in diesem Sektor mutige neue innovative Settings und Formate entwickelt wurden, um neue Kommunikations- und Interaktionsformen mit einem Publikum zu erproben. Sie haben damit einen wesentlichen Beitrag zur vorsichtigen Reorientierung von Kulturpolitik weg von der Angebotsfrageseite hin zur Nachfrageseite geleistet.
Das aber bedeutet, dass wir kulturpolitisch um die Frage nicht herumkommen werden, wie viele Kulturangebote sich ein wieder geöffnetes Österreich im sozialen, wirtschaftlichen, möglicherweise auch im politischen Ausnahmezustand leisten will bzw. kann. Es ist keine theoretische Frage, wenn die Kulturpolitik angesichts leerer Kassen und einem sinkenden Publikumsinteresse um Schwerpunktsetzungen nicht herumkommen wird. Ein erstes Indiz dafür könnte bereits die nächste Runde der Aufnahmeprüfungen an staatlichen Kunstuniversitäten bieten, wenn sich potentielle Studierende intensiver als bisher überlegen werden, auf was sie sich mit ihrem Berufswunsch angesichts eines schrumpfenden und dementsprechend heiß umkämpften Marktes einlassen.
Die verschärften Konkurrenzverhältnisse werden die privilegierten Einzelkämpfer*innen belohnen und damit den Zusammenhalt eines vielfach zersplitterten Sektors weiter schwächen. Das Gegenmittel heißt Politisierung des Kultursektors und damit die Bereitschaft zur Solidarität untereinander und darüber hinaus mit all denjenigen, die geschwächt aus der Krise gehen. Initiativen wie die der Bundestheater, künftig verstärkt die Kooperation mit dem freien Bereich zu suchen oder sich als Teil eines wesentlich umfassenderen NPO-Bereichs zur gemeinsamen Lösung brisanter gesellschaftlicher Probleme zu positionieren zu suchen, weisen in die richtige Richtung.
Im Schaufenster der IG Bildende Kunst in der Wiener Gumpendorfer Straße prangt ein Plakat „pay the artist now!“ Als Passant war mir im ersten Moment nicht klar, ob sich die Forderung an mich persönlich richtet und ich jetzt die Börse zücken soll. Bei genauerem Recherchieren bin ich dann rasch draufgekommen, dass es sich dabei um eine Initiative vor allem von bildenden Künstler*innen handelt, die im Fall einer Ausstellung ihrer Arbeiten vor allem in öffentlich-mitfinanzierten Galerien Ausstellungshonorar fordern. Sie wollen sich nicht mehr auf einen bestimmten Anteil des Verkaufserlöses einzelner ihrer Arbeiten beschränken lassen, sondern sehen ihre Leistungen wesentlich umfassender. Dabei beziehen sie sich auf einen überkommenen Werkbegriff, der nicht mehr den einzig möglichen, weil quantifizierbaren Maßstab dafür bieten würde, was Künstler*innen für die Gesellschaft leisten.
Der Arbeitsmarkt für Künstler*innen zählt im Vergleich zu anderen Sektoren zu den ungleichesten, ungerechtesten, darüber hinaus intransparentesten und willkürlichsten. In ihm steht ein kleiner Teil hochprivilegierter Akteur*innen einer großen Mehrzahl an prekär Tätigen gegenüber. Ein in anderen Arbeitsfeldern erstrebenswertes Mittelstandsverständnis ist den meisten von ihnen verwehrt. Das seit den 1970er Jahren etablierte staatliche Kunstfördersystem war ursprünglich darauf gerichtet, zumindest die ärgsten Auswüchse dieser Form der Verungleichung zu mildern. Mit der schleichenden Verunsicherung eines verbindlichen künstlerischen Qualitätsverständnisses in den 1990er Jahren erfolgte eine weitgehende Angleichung staatlicher Maßnahmen an marktwirtschaftliche Erfordernisse. Seither beteiligt sich staatliche Kulturpolitik aktiv an der Vertiefung der sozialen Gräben im Kunstbereich (man vergleiche die Spitzengagen in den Bundeskultureinrichtungen mit dem empirisch erhobenen Durchschnittseinkommen aus künstlerischer Tätigkeit in der Höhe von 5.000€ jährlich).
Initiativen diverser Interessensgemeinschaften haben immerhin eine Bewusstseinsbildung bei einigen kulturpolitisch Verantwortlichen hervorgerufen, die seither im Rahmen von „Fair Pay“ versuchen, gegenzusteuern und damit die soziale Lage des Gros der Künstler*innen zu verbessern. Förderempfänger*innen sollen verpflichtet werden, die von ihnen engagierten Künstler*innen „adäquat“ zu bezahlen und ihnen soziale Leistungen, wie früher auf der Tagesordnung, nicht länger vorenthalten. Diese Vorgaben bewirken freilich auch eine Einschränkung des Angebots (und damit der insgesamten Beschäftigungsmöglichkeiten für Künstler*innen), zumal wenig dafür spricht, dass der Förderkuchen in den nächsten Jahren noch einmal signifikant ansteigen wird.
Auf Bundesebene lässt sich zurzeit nur ein widersprüchliches Bild zeichnen. Zum einen haben die durch die Schließungen notwendig gewordenen Kompensationszahlungen zu einer weiteren Verschärfung sozialer Ungleichheit geführt: Andreas Stadler spricht in einem Kommentar in der Wiener Zeitung sogar von der Errichtung einer „Zwei-Klassen-Gesellschaft“, wenn SVS-Versicherte und damit die Beschäftigen im etablierten Kulturbetrieb gegenüber dem Freien Sektor nachhaltig begünstigt wurden. Umgekehrt haben auch Werner Kogler und Andrea Mayer verstanden, dass es kulturpolitisch selbst im neuen Wilden Westen der Konkurrenzgesellschaft nicht opportun sein kann, dem wachsenden Auseinanderdriften der Arbeitsbedingungen von Künstler*innen einfach zuzusehen (auch wenn man sich die längste Zeit auf die elitäre Position verständigt hatte, die sozialen Gegebenheiten hätten mit den einzig relevanten kulturpolitischen Parametern künstlerischer Qualität nichts zu tun und seien ausschließlich Sache der Sozialpolitik). So wurde zuletzt ein „Fairness-Prozess“ aufgesetzt, der sich eine gerechtere Entlohnung von künstlerischer Arbeit zum Ziel gesetzt hat. Erste Ergebnisse sind für das Frühjahr 2021 (also für jetzt) in Aussicht gestellt.
Naturgemäß haben die Auswirkungen der Pandemie vor allem unter Künstler*innen die Diskussion um ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ ungeachtet diverser sozialpolitischer Bedenken aus den Kreisen der traditionellen Arbeitnehmer*innen-Vertretungen befeuert. Eine solche Maßnahme würde künstlerische Tätigkeit aus dem unmittelbaren Verwertungszwängen befreien und den betroffenen Künstler*innen nicht nur eine – wenn auch bescheidene – Existenzsicherung ermöglichen, sondern auch eine Vielzahl neuer Betätigungs- und Gestaltungspielräume eröffnen. Gegner einer solchen Sonderstellung von Künstler*innen verweisen auf die Gefahr einer weiteren Entsolidarisierung. Wenn es angesichts mehrerer hunderttausend Arbeitsloser nicht gelinge, ein bedingungsloses Grundeinkommen auf alle Betroffenen auszudehnen, wäre eine auf Künstler*innen beschränkte Implementierung Wasser auf die Mühlen rechtspopulistischer Spaltungskräfte, die zu leicht zu einer weiteren Isolierung eines als elitär und selbstbezogen denunzierten Kulturbetriebs am Rand der Gesellschaft führen könnten.
Der im Moment gerne gebrachte Verweis auf einen „New, New Deal“, der Anleihe beim Recovery-Programm „Works Progress Administration“ des ehemaligen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt nimmt, geht in eine ähnliche Richtung. Ein solcher liefe à la longue auf die Schaffung neuer Beschäftigungsmöglichkeiten in Kooperation mit anderen Akteur*innen der Zivilgesellschaft in den Bereichen Soziales, Umwelt, Bildung, Gesundheit, Stadtplanung oder Landschaftsgestaltung hinaus, um gemeinsam Wege aus der aktuellen Krise zu suchen.
Die österreichische Kulturpolitik der Nachkriegszeit stellt eine einmalige Erfolgsgeschichte dar. Innerhalb weniger Jahre nach 1945 ist es gelungen, einem politisch desavouierten und wirtschaftlich am Boden liegenden Land ein positives Image zu verpassen (Die EU-Kulturpolitik könnte sich eine Scheibe abschneiden von einem solchen Erfolgsmodell). Mit dem gezielten Rückgriff des Kleinstaates auf ein schier unerschöpfliches kulturelles Erbe eines vergangenen europäischen Imperiums gelang es den Kulturpolitikern der jungen zweiten Republik, die eminente Beteiligung vieler Österreicher*innen am Nazi-Regime samt der Auslöschung eines stark jüdisch-inspirierten kulturellen Lebens vor 1934 bzw. 1938 vergessen zu machen. Mit ihrer radikalen Vergangenheitsorientierung stifteten sie sowohl nach innen als auch außen die Erzählung von einer herausragenden „Kulturnation“, die – als sich „etwas Besseres“ fühlend – erhaben wissen wollte über die Widrigkeiten der politischen Auseinandersetzungen der jungen Demokratie.
Entstanden ist so ein spezifisch-österreichisches, vorrangig auf Repräsentation (einer vermeintlich besseren Vergangenheit) gerichtetes Kulturverständnis, das bis in die 1970er Jahren weitgehend ohne Einspruch geblieben ist. Ausgestattet mit einer solchen Erzählung eignete sich ein über die Diktaturen hinweg geretteter (staatlicher) Kulturbetrieb hervorragend für die Befestigung einer konservativen Hegemonie, die auch von den Reformbemühungen Kreiskys nur teilweise gebrochen werden konnte.
Immerhin reagierte die sozialdemokratische Bundesregierung der 1970er Jahre auf die wachsenden Anforderungen einer neuen Künstler*innen-Generation, am Förderkuchen beteiligt zu werden. Das Ergebnis war der Aufbau eines breit angelegten Kunst- und Kulturförderwesens. Die darauf beruhenden Maßnahmen – das zeigt sich erst heute in vollem Ausmaß – ermöglichten in der Folge einen informellen Deal: Einerseits durfte der repräsentativ-konservative Charakter des Kulturbetriebs nicht in Frage gestellt werden. Andererseits sollte künftig auch das aktuelle Kunst- und Kulturgeschehen zumindest ausgewählter Sparten – wenn auch vergleichsweise bescheidene – staatliche Aufmerksamkeit erfahren.
Dazu mussten sich die Akteur*innen freilich verpflichten, als nunmehr selbst Teil der „Kulturnation“, sich jeglicher (kultur-)politischer Konfrontation zu enthalten. Entstanden ist so ein, unter einem unsichtbaren Glassturz stehender Sektor, der nach kurzem Aufbegehren seine gesellschaftspolitischen Ambitionen weitgehend aufgegeben hat. Umso größer die Überraschung, als sich der Sektor mit dem Ausbruch der Pandemie unversehens am Rand der Gesellschaft widerfand, wo er seit vielen Jahren oft unter äußerst prekären Bedingungen agiert und sich im Ruf nach mehr staatlicher Unterstützung als einzig möglicher kulturpolitischer Maßnahme erschöpft.
Diese zugegeben polemisch zugespitzte Analyse erklärt, warum es dem Sektor so schwer fällt, eine über die Vertretung von isolierten Bestandsinteressen hinausgehende kulturpolitische Streitkultur zu entwickeln, in der unterschiedliche Positionen gleichberechtigt verhandelt und nicht nur in Bezug auf das eigene Fortwurschteln im eigenen Saft diskutiert werden können. Zu stark ist offensichtlich nach wie vor ein obrigkeitsstaatlicher Gestus, der dem Staat die alleinige Verantwortung zuspricht, alle anstehenden Probleme, und sei es die der gesamtgesellschaftlichen Legitimation eines sich selbst zugesprochenen Sonderstatus zu klären.
Die staatlichen Repräsentant*innen wiederum versuchen, ihre herausragende Position im bewährten „Divide-et-impera“ Verfahren innerhalb einer untereinander isolierten bzw. in heftiger Konkurrenz zueinander stehenden Szene zu verteidigen. Gerne wird dafür die Aufforderung genutzt, nur „ja keine Neiddebatte“ aufkommen zu lassen, um eine offene Konfrontation über die äußerst ungerecht verteilte öffentliche Aufmerksamkeit (und damit verbunden Ressourcen) erst gar nicht aufkommen zu lassen.
Kurz gesagt: Wir müssen wieder streiten lernen. Wir haben verlernt, uns untereinander um die besten Ideen zu streiten, wir haben verlernt, die Konfrontation mit einer stagnierenden Kulturpolitik zu suchen und wir haben verlernt, uns als wichtige Akteur*innen in demokratischen Öffentlichkeiten zu positionieren, die bereit und in der Lage sind, einen Beitrag zur Lösung zentraler gesellschaftlicher Fragen, die in diesen Tagen immer mehr Menschen betreffen und beunruhigen zu leisten.
In der Veranstaltung „Konfrontation statt Repräsentation“ wollen wir der Frage nachgehen, ob angesichts eines erstarrten Systems in der Implementierung einer selbstermächtigenden Streitkultur eine besondere Chance liegen könnte. Dazu gehört, bestehende Bruchlinien, die das System seit vielen Jahren durchziehen und dennoch auf fast schon virtuose Weise tabuisiert werden, überhaupt einmal anzusprechen und damit erst verhandelbar zu machen.
Um diesem Ziel zumindest näher zu kommen, verzichten wir im diesjährigen Durchgang des Symposiums auf wohlgesetzte Fachbeiträge, sondern haben stattdessen eine Reihe von Akteur*innen zu „Streitverkündigungen“ eingeladen. Sie werden aus ihrer subjektiven Sicht von Problemen berichten, die uns eine, obrigkeitlichen Traditionen verpflichtete Kulturpolitik gelehrt hat, vergessen zu machen bzw. als nicht als veränderbar wahrzunehmen – um sie hoffentlich zu falsifizieren.
Sie sollten uns genügend Material liefern für eine lebendige, vielleicht auch widersprüchliche Diskussion als eine notwendige Voraussetzung für eine stärker auf Kooperation und Solidarität gerichtete Haltung des gesamten Sektors über seine überkommenen Spartengrenzen hinweg.
Am Ende könnte immerhin der Anspruch stehen, die Kulturpolitik der Nachkriegszeit, so erfolgreich sie für Besitzstandsbewahrer*innen auch immer gewesen sein mag, endgültig hinter uns zu lassen und mit einer gemeinsam erarbeiteten „Agenda für Kulturpolitik“ ein neues Kapitel aufzuschlagen.
Bild: Veransatltungsbanner “Konfrontation statt Repräsentation” ©die Angewandte