Wimmer’s Comment
Michael Wimmer regularly comments on the latest developments in culture, education and politics in his german commentaries. These are complemented by his own encounters and experiences as a lecturer, author and consultant.

Wiener Stimmen – Ihr habt was drauf. Und könnt ruhig mutiger sein!
Vor vollem Haus fand gestern das Konzert „Wiener Stimmen“ im Wiener Musikvereinssaal statt. Sechs in Wien ansässige Sänger*innen: Alexia Chrysomalli, Basma Jabr, Natasa
Mirkovic, Marjorie Etukudo, Golnar Shahyar und Sakina Teyna mit – wie es im Programmheft heißt – „unterschiedlichem musikalischem und sprachlichem Background“ begeisterten das Publikum mit jeweils zwei Liedern. Ihre Interpretationen haben Ursprung in den musikalischen Traditionen in den Herkunftsländern der Sängerinnen, die es aus unterschiedlichen, zumeist nicht freiwilligen Gründen nach Wien verschlagen hat.
Vorweg: Das waren wunderbare Wiener Stimmen, die wir da hören durften. Sie bedienten ganz unterschiedliche Genres. Und beschränkten sich – bis auf eine Ausnahme – doch auf eine klassische Darbietung, die als solche sehr das Klischee des klassischen Konzertbetriebes imitierte.
Jetzt wohnen in Wien eine Reihe ausländischer Sänger*innen, die sich in den klassischen Konzertbetrieb völlig integriert haben, ja als internationale Stars dominieren. Die Wahl-Wienerin Anna Netrebko ist nur eine davon, die gerne auch Liederabende mit Liedern aus ihrer russischen Heimat garniert.
Das Projekt „Wiener Stimmen“, das in Zusammenarbeit zwischen der Brunnenpassage und dem Musikverein zustande gekommen ist, will mit dem Auftritt der sechs Sängerinnen mehr,
als sie zu Fixstartern des Betriebs zu machen. Auch anhand ihres Lebenslaufs ist es Golnar Shahyars Anspruch, „soziale Gerechtigkeit in all ihren Formen zu verfechten und diese Leidenschaft zu einem integralen Bestandteil ihrer Musik zu machen“ – die wie ich finde die musikalisch bei weitem Mutigste auf der gestrigen Musikvereinsbühne war. Es geht also um nicht mehr und nicht weniger als um die Vorstellung eines urbanen Modells des Miteinanders, das musikalisch zum Ausdruck gebracht werden soll.
Damit wird klar, dass es hier nicht nur um eine Präsentation schöner Stimmen geht, sondern in zumindest gleichem Maße um ein Statement gegen die traditionelle Diskriminierung des klassischen Musikbetriebs, der den sechs Sängerinnen anders als im Rahmen dieses Projekts keine Chance geboten hätte, mit ihrem Repertoire am repräsentativsten Aufführungsort der Stadt aufgeführt zu werden.
Den Veranstalter*innen kann dafür nicht genug gedankt werden. Und doch möchte ich die
Gelegenheit nutzen, sie zu motivieren, beim nächsten Mal noch mutiger zu sein. Allzu sehr wirken hier noch die ehrwürdigen Traditionen des Hauses nach, wenn eine Sängerin nach der anderen – vorgestellt von einer bemühten Moderatorin – die Bühne betritt, um ihre beiden Lieder zu absolvieren.
Die meisten der Sängerinnen hatten eine*n Instrumental-Begleiter*in bei sich. Und man hätte sich gerne vorgestellt, wie die beiden jeweils höchst musikalisch miteinander umgehen. Stattdessen – es geht ja um den Eintritt in den großen Konzertbetrieb – mussten die
Niederösterreichischen Tonkünstler*innen mit ihrer Begleitung den Schlüssel zum wahren
Musikerlebnis beisteuern. Sonst – so die falsche Annahme – wäre es ja Folklore. Sie taten dies, indem sie mit ödem Filmmusik-Sound genau das zudeckten, um was es gehen sollte: um Musik, die nicht jeden Tag im Konzertsaal erklingt, wobei es eigentlich so gut ist, dass sie erklingen sollte. Spätestens als die Musiker*innen sich abmühten, ihren Instrumenten so etwas wie ein Grooven abzuringen, sehnte nicht nur ich mich nach einer kleinen Formation, die weiß, was sie tut – und es auch kann.
Den sechs Sängerinnen wiederum hätte jemand sagen können, dass es bereits eine lange Tradition gibt, lokale Musiken für den klassischen Betrieb aufzubereiten. Sie reicht von Dvorak, Smetana oder Bartok über Copland, Gershwin oder Bernstein. Mit ihren, „klassisch“ aufpolierten Interpretationen erfinden sie also nichts Neues, sondern werden – ob sie wollen oder nicht – an Traditionen gemessen, die längst zum Mainstream geworden sind.
Da oder dort hätte ich mir gewünscht, dass sich die Beteiligten manches vom Pop-Musik-Betrieb abgeschaut hätten. Rasche Wechsel, neue Konstellationen, Cross-over Musizieren, überraschende Settings eben, die das Publikum bei Laune halten und nicht ausschließlich darauf bauen, ihre Landsleute auf der Bühne zu bewundern. Gute Musik, gut präsentiert eben. Da ist noch viel Luft nach oben bei der Inszenierung dieser Wiener Stimmen.
Apropos Publikum: Ja, da kam ein Publikum zusammen, das ansonsten nicht zu den Stammbesucher*innen des Hauses gehört. Wohl einer der Gründe, warum der der neue Intendant Stephan Pauly sich getraut hat, dieses Experiment in die Tat umzusetzen hat. Dieses Publikum verhält sich anders und hat die meisten Regeln des Betriebs nicht internalisiert. Viele kamen zu spät und zwangen den Dirigenten Wayne Marshall so lange zu warten, bis alle ihre Sitze eingenommen hatten. Sie machten aber auch auf viel direktere Weise ihrer Begeisterung Luft, pfiffen und schrien, was das Zeug hielt. Oder blieben völlig unbewegt, wie meine Nachbar*innen – einfach sitzen ohne sich eine einzige Gemütsregung entlocken zu lassen.
Kurz: Es war eine andere Stimmung im Haus. Die zumindest eine Ahnung erbracht hat, wie er aussehen (und sich anhören) könnte, der Musikbetrieb de 21. Jahrhunderts in einer diversen Stadt voll der vielfältigen musikalischen Fähigkeiten und Bedürfnisse.