Wimmer’s Comment
Michael Wimmer regularly comments on the latest developments in culture, education and politics in his german commentaries. These are complemented by his own encounters and experiences as a lecturer, author and consultant.
Thomas Mann und Annie Ernaux: Zwei Nobelpreisträger*innen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Und gerade dadurch von einem Paradigmenwechsel auch in der Literatur erzählen.
Durch Zufall bin ich in diesen Tagen nochmals auf Thomas Manns “Lotte von Weimar” gestoßen. Der Roman verdankt sich der intensiven Beschäftigung des in Zürich und den USA exilierten Autors mit Goethe. Der Text kreist um dessen Jugendliebe Charlotte Kestner, die im Laufe der Handlung Gespräche mit einer Reihe von Bezugspersonen führt, die allesamt helfen sollen, den eigentlichen Helden besser zu verstehen (dass Mann in den Manifestationen der Weimarer Klassik durchaus eine direkte Linie zur nationalsozialistischen Herrschaft zu ziehen vermag, ist ihm an dieser Stelle als Autor seiner “Ansichten eines Unpolitischen” hoch anzurechnen.)
Mann tut das in einer Kunstsprache des frühen 19. Jahrhunderts, die uns heute weitgehend fremd geworden ist: Sie scheint “künstlich”, ausschweifend, überladen, in jedes Detail gehend, wohl in der Hoffnung, damit das Lebensgefühl von Goethes Weimar möglichs authentisch wieder erstehen zu lassen.
Und doch fühle ich mich als Leser völlig entmündigt: Alles ist bereits vorgegeben, keine Chance, eigene Assoziationen daran zu knüpfen.
Um dann Annie Ernauxs “Eine Frau aufzuschlagen” – ein Buch über ihre ihre Mutter. Um unmittelbar drauf gestoßen zu werden, dass man eine Person auch völlig anders beschreiben und damit wieder beleben kann:
Ernauxs Sprache scheint bis aufs Skelett reduziert. Jede Aussage ist auf unmittelbar Notwendige beschränkt. Und gerade dadurch gibt sie dem Leser die Möglichkeit, mit jedem gelesenen Satz einen eigenen Kosmos zu entwickeln.
Bei ihrem Schreiben, so scheint es, will sie nur wenig vorgeben, jedenfalls was der/die Leser/in denken oder fühlen soll. Sie ist ja selbst auf der Suche nach dem, was ihre Mutter ausgemacht hat. Und lädt die Leser*innen anhand der bruchhaften Schilderungen einiger Situationen ein, sich daran zu aktiv beteiligen. Und so gewinne ich “selbst” ein Bild dieser porträtierten Frau, selbst auf die Gefahr hin, dass diese Bild mehr mit mir zu tun hat als mit den Intentionen der Autorin. Aber genau deswegen handelt es sich ja um Literatur. Und nicht um eine Beschreibung der Person.
Mir wird bei diesem Vergleich klar, dass wir selbst in der Literatur einen Paradigmenwechsel von der künstlerischen Repräsentation hin zur künstlerischen Kommunikation erleben, der im Vergleich der beiden Nobelpreisträger*innen im Abstand von 90 Jahren Mann mit Ernaux nicht krasser aufgezeigt werden kann.
Allen, die sich für eine kanonisierte Literaturpflege stark machen, würd ich gerne zurufen: Schön, dass sich ein geändertes Produktions- und Rezeptionsverhältnis auch im Bereich der von Literatur bis zum Nobelpreis-Komittee durchgesprochen hat.