Wimmer’s Comment
Michael Wimmer regularly comments on the latest developments in culture, education and politics in his german commentaries. These are complemented by his own encounters and experiences as a lecturer, author and consultant.
Kulturpolitik am Scheideweg – Von wegen “alle”
Der “Kulturreporter” Peter Grabowksi hat zuletzt eine längst überfällige Diskussion zur aktuellen kulturpolitischen und kulturbetrieblichen Unhaltbarkeit liebgewordener Gedankenlosigkeiten angeregt: https://derkulturpolitischereporter.wordpress.com/2023/04/18/kultur-fur-alle-das-ideal-braucht-eine-neue-deutung/?fbclid=IwAR2h47baBX1Lohs6LV4WVZpFTZypMYdn9jcmsVALfB-xIcx0ParC8z6Z2oM
Unter dem Titel “”Kultur für alle”: Das Ideal braucht eine neue Deutung” denunziert er den Herrschaftscharakter einer staatlich privilegierten Kulturangebotes. Dieser sei – das zeigen die letzten 50 Jahre – auch mit noch so gut gemeinten Bildungs- und Vermittlungsinitiativen nicht aus der Welt zu schaffen.
Statt dessen spricht er sich für die Akzeptanz kultureller Vielfalt aus, wonach jeder gleichberechtigt nebeneinander seinen kulturellen Vorlieben frönen soll, ohne dass ihn der Staat noch einmal – und sei es durch Umverteilung (in der Regel von unten nach oben) im Rahmen des Kulturfördersystems – am Gängelband zu führen versucht.
Er reiht sich damit ein in die Gruppe derjenigen, die angesichts einer “Kultur ohne Zentrum” die wachsende Diversität nationaler Gesellschaften zum Leitlinie künftiger kulturpolitischer Maßnahmen empfehlen.
Und uns mit zumindest mit zwei Aufgaben zurücklässt:
– Es gilt einerseitss die Frustration auszuhalten, dass Kultur-Politik damit jede Ambition aufgeben muss, sich nochmals einer kapitalistischen Dynamik entgegen zu stellen, die alles dran setzt, alles, was einmal “Gesellschaft” war, in möglichst viele Einzelteile zu zerbrechen, die untereinander in Konkurrenz stehen und diese mit kulturellen Mitteln zu überhöhen trachten.
Dass die alten, staatlich hochprivilegierten Tanker die Aufgabe der Schaffung einer gemeinschaftsstiftenen Verbindlichkeit nicht mehr zu leisten vermögen, das wissen wir. Ob wir uns angesichts der Verunsicherung isolierter Individuen/Kleingruppen von der Idee der Vergemeinschaftung – etwa im Rahmen der Herstellung neuer kultureller Öffentlichkeiten – ganz verabschieden sollten, das ist eine Frage wert.
– Und es gilt, sich von traditionellen Konzepten von “Qualität” zu verabschieden. Immerhin hat die Legitimation staatlicher Umverteilung im Kunst- und Kulturbereich lange von der Behauptung gezehrt, gute von weniger guten Angeboten unterscheiden zu können.
Im aktuellen Diversitäts-Selbstverständnis aber hat dazu der Staat nichts mehr zu sagen, Qualität in einer Welt in der alles Kunst sein kann, ist das, was in der jeweiligen Szene darunter verstanden wird.
Und damit den Staat zwingt, will er den kulturpolitisch weiterhin eine Mitsprache beanspruchen, in seiner Förderstrategie zunehmend dem Feld externe Maßstäbe anzuwenden: Ressourcenschonung, Umweltschutz, Fair Pay, Demokratieverträglichkeit, soziale Ungleichheit, sektorübergreifende Kooperation oder eben Repräsentanz fortschreitender Diversität.
Was wir aber vor allem lernen:
Mit Kultur lässt sich kein Staat mehr machen. Schon deshalb, weil es “alle”, wenn es sie denn je gegeben hat, nicht mehr gibt.
Und es zur Zeit keinerlei Indizien dafür gibt, dass “alle”als eine zunehmend leere Größe noch einmal kulturpolitisch handlungsleitend werden könnte.