Wimmer’s Comment
Michael Wimmer regularly comments on the latest developments in culture, education and politics in his german commentaries. These are complemented by his own encounters and experiences as a lecturer, author and consultant.
Der Fall Lindemann: Wird da gerade der Geniekult auch im Musikbusiness von Sockel geholt?
Till Lindemann von Rammstein muss ein ziemlicher Kotzbrocken sein. Auf Grund einer Reihe von Aussagen betroffener Frauen steht er in der öffentlichen Kritik, gerichtliche Verfahren werden geprüft, ein Fall, der die anhaltende #MeToo Debatte ziemlich evidenzbasiert befeuert.
Bei aller Notwendigkeit, den Fall medial zu verhandeln, so fällt doch auf, dass da eine Geschichte zu einer unerwarteten Größe aufgeblasen wird. Obwohl noch kein gerichtliches Verfahren eingeleitet wurde, überbieten sich die Medien in mehrseitigen Berichten und Einschätzungen und suggerieren damit, hier handle es sich um einen ungeheurlichen Einzelfall.
Die Gründe mögen in der großen Beliebtheit von Rammstein und ihres Leadsängers liegen, vielleicht auch, weil sich die geäußerten Verdächtigungen eine gut verkaufbaren Empörungswelle beziehen können, die ihre Ursachen in machistischem Fehlverhalten vieler namhafter Akteure des Kulturbetriebs hat, das selbst von den größten Fans so nicht mehr hingenommen werden will.
Könnte es also sein, dass gerade das Ende eines Geniekults erleben, der seinen Ursprung in der Hochkultur des 19. Jahrhunderts hatte und unerwartet bie heute seine Fortsetzung im modernen Unterhaltungsbetrieb gefunden hat?
Dass es hier ein paar Auserwählte gibt, die buchstäblich machen können, was sie wollen, und sei es, sich an ihrer Umgebung zu vergreifen, gerhörte die längste Zeit zur Grundvorsaussetzung einschlägiger Events. Erst diese “Allmacht”, die vor allem den männlichen Künstlern damit verliehen wird, würde ihnen die Kraft geben, ihres ganzes Genie gegenüber einem enthusiamierten Publikum zum Ausdruck zu bringen. Stellvertretend für dieses sollten diese “die Sau rauslassen”, um so den bedingungslos Affirmierenden das Gefühl zu geben, im Wortsinn “dabei zu sein”.
Und wer etwas dagegen einwenden wollte, wurde de Infragestellung der Freiheit der Kunst geziehen, Oder galt schlicht ein Spielverderber, der nicht verstanden hat, worum es eigentlich geht.
Diese Figur steht heute auf der medialen (und zunehmend auch gerichtlichen) Anklagebank. Offenbar ist das Publikum gerade dabei, sich soweit zu emanzipieren, dass es sich nicht mehr auf die Rolle des (potentiellen) Vergewaltungsopfers zufrieden geben will, um gut unterhalten zu werden.
Was aber dann? Höchste Zeit für den Kulturbetrieb, sich jenseit alles Wokeness-Gefasels – auch im Pop sowohl die Rolle des Künstlers als auch des Publikums zu überdenken und sich neue Inszenierungen einfallen zu lassen.