Wimmer’s Comment
Michael Wimmer regularly comments on the latest developments in culture, education and politics in his german commentaries. These are complemented by his own encounters and experiences as a lecturer, author and consultant.
Das Kulturelle Erbe als Hure des Konservativismus – in seiner staatlichen ebenso wie in seiner marktwirtschaftlichen Verfasstheit
Den wenigstens Nutzer*innen des staatlichen Kulturangebots ist heute noch bewusst, welch eminente kulturpolitische Erfolgsgeschichte sich hinter der Pflege des Kulturellen Erbes verbirgt. Immerhin ist es staatlicher Kulturpolitik im vorigen Jahrhundert zweimal gelungen, mit dem Rückgriff auf dieses schier unermesslich große Reservoir kultureller Güter aus vordemokratischer Zeit Österreichs Nationenwerdung nachhaltig zu beeinflussen oder den Kleinstaat im Herzen Europas zur “Kulturgroßmacht” zu verklären (Im Rahmen eines antirassistischen Anspruchs der Gleichwertigkeit der Kulturen gibt mir immer wieder zu denken, warum ein nach 1945 politisch, sozial, wirtschaftlich und auch kulturell zutiefst beschädigter Kleinstaat mit rund 9 Millionen Einwohner*innen im Herzen Europas etwa bei den 1,4 Mrd. Chines*innen eine so herausragende Bekanntheit erlangen konnte, während wir im Zuge von Corona von Städten in China erfahren, die gleich viele Bewohner*innen aufweisen, ohne dass wir jemals vorher von ihnen gehört hätten).
Die Leidtragenden sind bis heute diejenigen, die sich von diesem kulturellen Erbe zu emanzipieren versuchen, um das Land abseits der überkommenen staatlichen Prioritäten mit zeitgenössischem künstlerischen Leben zu versehen. Und zu ihnen gehören auch all diejenigen, die im staatlich hochprivilegierten Kulturbetrieb die symbolische Repräsentation eines spezifisch österreichischen Konservativismus erkennen und zu überwinden trachten, der trotz aller vielfältigen Ausbruchsversuche einzelner Künstler*innen seine Bewohner*innen bis ins Innerste prägt.
Sie alle wurden zuletzt zunehmend auf den Markt verwiesen. Immerhin hat dieser im Gegensatz zu den staatlichen Kultureinrichtungen kein Problem damit, die alten, sozial definierten Standesgrenzen zu überwinden und damit ein vielfältiges Kulturgeschehen auf der Höhe einer diversen Gesellschaft zu organisieren. Um jetzt erstaunt festzustellen, dass dort das kulturelle Erbe bereits wieder drauf und dran ist, sein altes Dominanzgehabe fortzusetzen.
In seinem Beitrag “Alte Meister, frischer Zaster” geht Stefan Weiss im Standard dem Coup und seinen Konsequenzen nach, den das Belvedere mit der Verwarenförmigung von Gustav Klimts Kuss als NFT (Non-Fungible Token) gelandet hat. Geht der Geschäftsplan auf, dann kann sich das Museum bis zu 18,5 Millionen Euro an Einnahmen am Markt potentieller Anleger*innen mit einem Herz für die Kunst erwarten. Und – der Analyse von Stefan Weiss folgend – dann ist das erst der Anfang.
Geht es nach den Verfechter*innen einer marktliberalen Kulturproduktion und -konsumption, dann lassen sich mit dieser neuen, offenbar marktwirksamen technischen Innovation die durch die Pandemie-Einschränkungen verursachten Budget-Probleme der großen Museen auf einen Schlag beheben – und damit staatlicher Kulturpolitik von einem Tag zum anderen die Grundlagen entziehen. Ihre Hoffnung: Mit diesen, im Moment höchst marktattraktiven technologischen Innovationen kann sich der Staat früher oder später gleich ganz von seinem musealen Engagement verabschieden (dies umso leichter, weil für sie das Kulturelle Erbe seine Schuldigkeit als Medium der nationalen Selbstvergewisserung längst erfüllt hat, und selbst die Vertreter*innen staatlicher Kulturpolitik sowie weite Teile des Kulturbetriebs sich zuletzt damit begnügt haben, diesen an die internationale Tourismusindustrie zu verscherbeln).
Hellhörig aber bin ich geworden beim Einwand all derjenigen, die der NFT-Technologie zwar durchaus positiv gegenüberstehen, diese aber vor allem als ein Instrument gesehen haben, um zeitgenössischen Digitalkünstler*innen die Möglichkeit zu eröffnen, kopiergeschützte Originale herzustellen, um damit besser als bisher am Markt partizipieren zu können. Um jetzt zu erfahren, dass ihr Geschäft längst die großen alten, staatlich hochprivilegierten, auf die Verwaltung des Kulturellen Erbes festgelegten Tanker übernommen haben.
Kulturpolitisch bedeutet die aktuelle Dynamik auf den Kulturmärkten, dass uns die konservative Hegemonie, die uns das kulturelle Erbe auf immer neue Weise beschwert, auch in Zeiten des Neoliberalismus erhalten bleibt. Sie wird halt von der staatlichen Kulturpolitik auf die Marktverhältnisse übertragen. Anders gesagt: War bislang der Staat die zentrale Agentur, um mit kulturellen Mitteln die konservative Verfassung des Landes sicher zu stellen so übernimmt diese Aufgabe nunmehr der (scheinbar ideologielose) Markt. Und zwar mit Hilfe einer Digitalisierungsstrategie, die darauf abstellt, das Kulturelle Erbe in neue Produkte zu gießen und damit Anleger*innen freundliche Warenform zu bringen.
Die Nachteile für diejenigen, die sich angesichts der Dominanz des kulturellen Erbes um ein lebendiges, vielfältiges, zukunftsorientiertes und damit zeitgemäßes künstlerisches Leben bemühen, liegen auf der Hand. Sie waren randständig in Zeiten der politischen Vernutzung des Kulturellen Erbes und müssen jetzt erfahren, dass sie das auch bleiben werden in der aktuellen Phase, in der der Markt seine Verwertungsinteressen auf das richtet, was sich am leichtesten verkaufen lässt: Auf ein Kulturelles Erbe.
Was zu Beweisen war: Der Handlungsbedarf einer zumindest “marktkorrigierenden”, weil wertorientierten und damit nicht nur vergangenheitsverliebten, sondern zukunftsorientieren Kulturpolitik war nie größer.