Wimmer’s Comment
Michael Wimmer regularly comments on the latest developments in culture, education and politics in his german commentaries. These are complemented by his own encounters and experiences as a lecturer, author and consultant.
“Der Verlust – ein Grundproblem der Moderne” von Andreas Reckwitz – ein akademischer Immunisierungsversuch
Ich war überrascht, dass ich zuletzt von einer Reihe von Freund*innen auf Reckwitz’ jüngste Veröffentlichung angesprochen wurde; es handle sich um das “Buch der Stunde”, um nicht mehr oder weniger als um einen gelungenen Welterklärungsversuch in schwieriger Zeit.
Also hab auch ich mich dran gemacht. Und mich im ersten Teil durch eine höchst akademische Analyse des Begriffs von “Verlust” gearbeitet. Und habe Reckwitz dabei begleitet, wie er den Begriff konsequent angrenzt, semantisiert, visibilisiert, kartographisiert, systematisiert, strukturiert und potenziert,…um ihm damit genau das zu nehmen, was ihn ausmacht: die unmittelbare menschliche Dimension.
Gerne hätte ich Reckwitz in all seinem Bemächtigungsansprüchen, über einen Begriff umfassend verfügen zu können, gefragt, wie er denn selber mit Verlust umgeht. Um zu vermuten, dass seine Überlegungen zumindest auch einen grandiosen Versuch darstellen, sich – unter Strapazierung eine akademischen Ethos der eigenen Indifferenz – vom eigenen Verlustempfinden zu distanzieren, um so über den Dingen zu schweben.
So über Verlust zu schreiben, muss man sich leisten können, hab ich mir irgendwann gedacht. Dafür brauche ich ein sicheres akademisches Fundament, dass mich selbst vor existentiellen Verlusten feit. Das ist kein Buch für Empathie für all diejenigen, die Verluste erleiden, sondern für all diejenigen, die den Luxus leben können, Verlust in die ihnen genehme gedankliche Form zu bringen.
Und doch ist diese Rasterfahndung nach dem richtigen Begriffsverständnis nur die Vorgeschichte für einen zweiten Teil in Form einer Fortschrittsgeschichte auf Metaebene, die – geht es nach Reckwitz – aufgrund überhand nehmender Verluste an ihr Ende zu kommen droht.
Das ist mühsam zu lesen. Und doch aufschlussreich, vor allem in Bezug auf die gesellschaftspolitischen Phänomene, die uns im Moment soviel ungläubiges Kopfschütteln bereiten.
Wer politische Antworten zur aktuellen Lage sucht, wird enttäuscht werden. Aber die Lektüre bietet immerhin die Chance, sich danach noch einmal zurückzulehnen und Reckwitz recht zu geben: Ja, es könnte wirklich sein, dass die Moderne, wie wir sie kennen, gerade ein ein Ende kommt. Und schuld ist ein zunehmendes Verlust-Bewußtsein.
https://www.perlentaucher.de/buch/andreas-reckwitz/verlust.html