Wimmer’s Comment
Michael Wimmer regularly comments on the latest developments in culture, education and politics in his german commentaries. These are complemented by his own encounters and experiences as a lecturer, author and consultant.
Gerechtigkeit und Kulturpolitik – Die kulturpolitische Priorisierung des klassischen Musikbetriebs aus dem Geist des nationalsozialistischen Rassismus und Antisemitismus.
Bevor mit der Wiederöffnung der großen Kultureinrichtungen der Wunsch nach Rückkehr zur Normalität zu übermächtig wird, könnten wir uns in Erinnerung rufen, dass sich die kulturpolitische Bevorzugung des klassischen Musikbetriebs nicht (nur) der besonderen Qualität des Gebotenen verdankt – Weit eher schon dem Versuch nationalsozialistischer Kulturpolitiker, denen es ein Anliegen war, mit der systematischen Bevorzugung von auf (politisch ungefährliche) klassische bzw. romantische Musik festgelegte sogenannte “Kulturorchester” den großen Rest des übrigen Musiklebens abzuwerten bzw. als „entartet“ zu diskriminieren.
Das war umso mehr im Sinn der nationalsozialistischen Ideologen, als in der Zwischenkriegszeit eine Vielzahl neuer Formen des gleichberechtigen Zusammenwirkens von Musiker*innen außerhalb hierarchischer Orchesterstrukturen erprobt wurde, um damit dem unbedingten Führerprinzip im Verhältnis zwischen Dirigenten und Orchestermusikern ein auf Egalität beruhendes Gegenmodell – etwa im Jazz – entgegenzusetzen.
Mit Hilfe von aus der Nazi-Zeit stammenden Tarifordnungen, die in den 1950er Jahren weitgehend unverändert fortgeschrieben wurden, sollte sich bis heute eine, in zwei ungleiche Klassen geteilte Musikszene erhalten, Ihrer Verteidiger*innen schreiben bis heute der einen unter dem Titel E-Musik das Gros der öffentlichen Mittel, darüber hinaus öffentliche Wertschätzung samt Bildungsanspruch zu, während alle nicht klassische Musik als U-Musik allenfalls Brosamen erhält, um ansonsten als Beitrag zur Unterhaltungsindustrie auf den Markt verwiesen zu werden.
Und doch mehren sich die Zweifel, ob eine solche Priorisierung knapp 80 Jahre nach der Niederringung eines nationalsozialistischen Hegemonieanspruchs noch gerechtfertigt werden kann. Zumal die Kulturpolitik zunehmend darunter leidet, über keinerlei Handlungsspielräume mehr zu verfügen und stattdessen gezwungen ist, einen Großteil der öffentlichen Mittel an die Begünstigen aus einer Zeit, in der sich jede Idee von demokratischer Mitgestaltung verboten hat, einfach weiterzuleiten zur Aufrechterhaltung einer konservativen Hegemonie.
Damit ich nicht missverstanden werde: Im großen Reigen des Musikbetriebs soll natürlich auch klassische Musik ihren Platz haben. Dass aber ausgerechnet eine musikalische Organisationsform, die jegliche Ansprüche eines zeitgemäßen demokratischen Zusammenlebens fast schon ostentativ verhöhnt, ungebrochen darauf pocht, das Maß jeglicher Kulturpolitik darzustellen, könnte als Zeichen eines Neuanfangs Anlass dafür sein, so manche, aus vordemokratischen Zeiten stammenden kulturpolitischen Schwerpunktsetzungen in Frage zu stellen.
Wer‘s genauer wissen will, dem empfehle ich einen Blick in Lutz Felbicks Beitrag “Das ‚hohe Kulturgut deutscher Musik‘ und das ‚Entartete‘ – Über die Problematik des Kulturorchester-Begriffs”.