Wimmer’s Comment
Michael Wimmer regularly comments on the latest developments in culture, education and politics in his german commentaries. These are complemented by his own encounters and experiences as a lecturer, author and consultant.
Jedermann – oder das, was wir zu erwarten haben
Immer wieder rätsle ich, was diesem “Mysterienspiel” bis heute eine solche Wirkung verleiht. Die Neuproduktion des Kanadiers Robert Carsen ( https://on.orf.at/video/14236168/jedermann ) erneuert nicht nur seinen Charakter als Cash-Cow der Salzburger Festpiele sondern lockt auch hunderttausende vor die ORF-Übertragung ( https://www.salzburg24.at/news/salzburg/hunderttausende-schalten-jedermann-beim-orf-ein-162512653 ).
So auch mich, in der Hoffnung, besser draufzukommen, was da passiert. Ja, da ist der Nimbus des Stückes, der Adabei-Effekt, das Ambiente vor dem Dom, das neue Hauptdarsteller-Paar, die hochgejazzte Neuproduktion,…..
Aber dahinter steht ein konkretes Stück, das bei allen Breakdance- und Tango-Einlagen nicht biederer sein könnte, mehr, ein Angriff gegen alles, was eine moderne, aufgeklärte Gesellschaft ausmacht.
Nachdem ich mich durchgequält habe, komme zum Schluss, dass in dieser Aufführung das Katholisch-Konservative der österreichischen Gesellschaft noch einmal seinen paradigmatischen Ausdruck findet. Und zwar in höchst attraktiver Weise: Als Teilnehmerin eines Kulturspektakels muss man sich nicht einmal mehr als katholisch-konservativ deklarieren. Ich muss kein Kirchgänger sein und kann mich doch hinter der Maske des Kunstgeschehens darf ich mich meiner Sehnsucht nach Reaktion hingeben.
Die Botschaft ist klar: Du kannst auf Erden machen, was Du willst. Am Ende erwartet Dich die Weggabelung zwischen ewiger Verdammnis und göttlicher Vergebung. Und also wird mir Gott verzeihen.
Ich denke, antiaufklärerischer kann eine künstlerische Botschaft nicht sein: Du brauchst während Deiner Lebenszeit keine Verantwortung für Dich und die Welt übernehmen, eine höhere Macht wird schon alles wieder gerade biegen.
Die Unertäglichkeit der Sturmingerschen Fassungen lag wohl darin, dass er diesen Defätismus entlang aktueller gesellschaftlicher Kontroversen zumindest symbolisch thematisiert hat. Carsen und sein Team dagegen sind da viel klarer. Und damit fast schon eine ideale künstlerische Repräsentation einer neuen alten Epoche, aus der ein politischer Emanzipationswille uns vor mehr als hundert Jahren ausbrechen wollte, um jetzt mit der ganzen Kraft des Selbsthasses wieder dorthin zurückzukehren.
Und wieder einmal erweist sich Kunst als Seismograph gesellschaftlicher Entwicklung. Hier verspricht sie einen säkularen Katholizismus für Ungläubige zwecks Refeudalisierung der politischen Verhältnisse.
Dass die Salzburger Festspiele ihren Anspruch als Hort der Auseinandersetzung mit relevanten gesellschaftlichen Fragen aufgegeben haben, das ist das eine. Dass der ORF als zentrale Bildungsanstalt diesen Geist kommentarlos übernimmt ist das andere.
Wir gehen finsteren Zeiten entgegen, das erzählt uns dieser “Jedermann”. Die Waffen der Kunst sind stumpf geworden – Gnade uns Gott.