Wimmer’s Comment
Michael Wimmer regularly comments on the latest developments in culture, education and politics in his german commentaries. These are complemented by his own encounters and experiences as a lecturer, author and consultant.
Scheiss auf die Kritik – Wenn Künstler Hundekot auf Rezensentinnen werfen
Künstler*innen stehen offensichtlich nicht immer im besten Einvernehmen mit ihren Kritiker*innen. Zuletzt hat der Hannoveraner Ballettdirektor Marco Goecke die Tanzkritikerin der FAZ Wiebke Hüster mit Hundekot. Begründung: Sie habe sein jüngstes Stück niedergeschrieben.
Man kann das Verhalten Goeckes als einmalige Überreaktion bewerten. Man kann sich bei der Gelegenheit aber auch noch einmal Gedanken über dieses spannungsgeladene Verhältnis zweier Berufsgruppen machen, die aufs Engste aufeinander bezogen sind. Und doch gerade dabei sind, immer weiter auseinander zu driften
Es gehört zu den zentralen Aufgaben der Kunstkritik, die künstlerische Produktion einem breiteren Publikum bekannt zu machen, darüber hinaus diesem begründete Vorschläge zur Bedeutung zu machen. Ihre gesellschaftspolitische Bedeutung liegt darin, den ästhetischen Diskurs über einen kleinen Kreis von Insidern hinaus am Laufen zu halten, um in breiteren Kreisen das Phänomen Kunst zu verhandeln. Kunstkritiker*innen sind damit Vermittler*innen par excellence, auch wenn das in der Vermittler*innen-Szene selbst gern negiert wird.
Vieles spricht dafür, dass zur Zeit die Spannungen zwischen Produktion und Kritik zunehmen. Da ist zum einen der offenbar unausrottbar selbstherrliche Gestus von Künstler*innen, die sich jegliche differenzierende oder gar negative Beurteilung verbitten. Diese solle sich darauf beschränken, das künstlerische Angebot zu affirmieren und nicht so tun, als verstünde sie es besser als der Schöpfer einer Kunst, die sich als unauslotbares, jede Einordnung entgegenstehendes Geheimnis offenbart, dessen Tragweite nur einigen wenigen Eingeweihten in vollem Ausmaß zugänglich ist.
Zum anderen wird die Medienlandschaft gerade in ihren Grundfesten erschüttert: Selbst große Medienhäuser sind nicht mehr in der Lage, erfahrene Kritiker*innen zu beschäftigen, die sich auf Augenhöhe des Kunstbetriebs wissen. Stattdessen wird das verbleibende Geschäft von einigen wenigen Freelancern betrieben, die in ihrer Prekarität kaum mehr in der Lage sind, einen profunden Überblick zu wahren und damit ihrem Auftrag der Einordnung des Rezensierten in einer vielfältigen Kulturlandschaft zu erfüllen. Sie konzentrieren sich auf einige wenige große Events, die der öffentlichen Aufmerksamkeit sicher sein können, während die vielen kleinen Produktionen, vor allem der freien Szene unter dem Radar medialer Aufmerksamkeit stattfinden.
Am entscheidendsten aber sind wohl auch hier die sozialen Medien. Als einfach zu handhabende Kommunikationsmittel suggerieren sie einen unmittelbaren Draht zwischen Produzent*innen und Rezipient*innen, der – noch dazu interaktiv gestaltbar – jede Form der dazwischen geschalteten Kritik obsolet erscheinen lässt. Man könnte auf den Gedanken kommen, hier feiere die Vorstellung einer alten Unmittelbarkeit der Kunstrezeption noch einmal fröhliche Urständ. Eine solche Form der „medialen Authentizität“ meint, auf eine kritische Distanz der Kritik verzichten zu können – Jeder Nutzer und jede Nutzerin wird somit zur Kunstinstanz, egal ob sie über das dafür notwendig ausdifferenzierte Geschmacksurteil verfügt oder nicht.
All diese Tendenzen machen klar, dass diese zu einem Ende einer aufklärerischen Haltung auch und gerade im Kunstbereich führt. Diese war explizit darauf gerichtet. Zwischen dem künstlerischen Schaffen und seiner Rezeption eine distanzierende Reflexionsform einzuführen, um das, was jeweils künstlerischer der Fall war zu kontextualisieren und damit einen (gemeinschaftsbildenden) Orientierungsrahmen zu schaffen.
Jetzt zählt die schiere Befindlichkeit. Und die kann dann schon mal dazu führen, ins Sackerl zu greifen und mit Hundekot herumzuwerfen.
Allen Süddeutsche-Leser*innen sei der Beitrag „Dackelalarm“ von Christine Dössel ans Herz gelegt: https://www.sueddeutsche.de/kultur/hannover-schauspiel-hundekot-kunst-kritik-marco-goecke-1.5750743?reduced=true
P.S.: Speziell in Wien hat sich eine besondere Spezies der (konservativen) Kunstkritik erhalten. Ihr geht es nicht vorrangig um die Einordnung des künstlerischen Geschehens. Ihr geht es um Ausüben von Macht als die „eigentlichen“ kulturpolitischen Akteur*innen. Die jüngsten Entscheidungen zu Leitungsfunktionen in eine Reihe von Kultureinrichtungen in der Stadt zeugen davon: https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=22041%3Akommentar-wien-wie-die-aktuellen-leitungs-neubesetzungen-die-theaterszene-der-stadt-aufwuehlen&catid=101&Itemid=84&fbclid=IwAR3SjvHQnYIPMe2HYHI1sK2nBlGrivD-CPuwHd4OKIG12cIXyDOJWZVtPNk
P.P.S.: Wer sich noch einmal grundsätzlich zur Einschätzung der Kulturkritik aus historischer Sicht auseinander setzen möchte, dem empfehle ich die Studie von Georg Bollenbeck: „Kulturkritik“: https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-11515