Über die tödlichen Versuchungen der kulturellen Eindeutigkeit

1914 veröffentlichte Thomas Mann den Beitrag “Gedanken zum Kriege”, in dem er den Krieg als Befreiung beschreibt. Deutschland beschrieb er als Land der Kultur, das sich im Kampf gegen die westliche Zivilisation zu behaupten habe: “Politik…ist eine Sache der Vernunft, der Demokratie und der Zivilisation – und damit eine undeutsche Sache, weil das deutsche Volk eines der Metaphysik, der Pädagogik und der Musik sei.” Thomas Manns Sätze fallen mir ein, wenn ich die Analyse des Sicherheitspolitikforschers Tobias Fellas zum Krieg in der Ukraine lese, der zu zufolge dort gerade zwei kulturimperialistische Konzepte gegeneinander antreten würden: Einerseits eine eurasische Kultur, die sich – geht es nach ihren Ideologen — durch eine “einzigartige Identität des kollektiven Zusammenhalts, der Spiritualität und des Autoritarismus auszeichnen würde. Und andererseits eine westliche Kultur, die durch Demokratie, Marktwirtschaft, Menschenrechte und Individualismus geprägt sei. Auf diese Weise träfen Stabilität, Hierarchie und autoritäre Herrschaft auf Dynamik, Handelsmacht und Fortschritt. Beide imperiale Konzepte stünden in einem unauflöslichen Antagonismus zueinander — zur Frage steht nicht mehr und nicht weniger als Krieg und/oder eine neue Weltordnung. Ein erster Versuch des Brückenschlags könnte darin bestehen, den aktuellen Konflikt zu “entkulturalisieren”. Ja, es geht um Macht- und Einflusssphären rivalisierender Mächte. Und dies zu beherrschen ist Politik da, dafür Kompromisse zu finden. Aber es ist die Kultur, die uns weismachen will, dass wir als naturgegeben einander unversöhnbar gegenüberstehen, und so diese Konflikte immer weiter eskalieren lassen. Aus der Geschichte wissen wir, dass Kultur — einmal gegeneinander gerichtet — tödliche Wirkung entfaltet. Die Ukrainer*innen in den Luftschutzkellern wissen ein Lied davon zu singen.