Wimmer’s Comment
Michael Wimmer regularly comments on the latest developments in culture, education and politics in his german commentaries. These are complemented by his own encounters and experiences as a lecturer, author and consultant.
21/06/2023
“Us and them” – Eine Kritik der Musikvermittlung, die auf halbem Wege unschlüssig stehen bleibt.
Vor ein paar Tagen dachte der “Community Artist” François Matarasso im Rahmen des Symposiums “Turning Social” an der mdw https://www.mdw.ac.at/turningsocial/ öffentlich darüber nach, wie es gelingen könnte, die überkommenen sozialen Trennungen, die sich auch im Musikbetrieb widerspiegeln würden zu überwinden. Er bezog sich dabei vor allem auf die Erfahrungen eines europäischen Kooperationsprojektes “Traction” https://www.traction-project.eu/ , mit dem die Möglichkeiten von Co-Creation im Rahmen des Opernbetriebs in Spanien, Portugal and Irland erprobt wurden.
In seiner Analyse kritisierte Matarasso das traditionelle Topdown-Verständnis, mit dem der klassische Musikbetrieb bislang versucht hat, neue Publikumsschichten zu erreichen, um damit genau die Trennung von “us” and “them” zu verstetigen.
Wenn er diesem missionarischen Gestus eines zu Wohlstand und Einfluss gekommenen Bürgertums einen “philantropischen Charakter” zuspricht, würde ich gerne noch einen Schritt weiter gehen. Ihn zu Ende denkend, wäre der klassische Musikbetrieb nicht nur Ermöglicher sondern ungebrochen Ausdruck eines Distinktionsbedürfnisses. Damit ist es es der Betrieb selbst, der die soziale Trennung bis heute aktiv betreibt und dies mit diversen Vermittlungsbemühungen nur unzugänglich zu kaschieren vermag.
Matarasso bezog sich auf einen sehr lesenswerten Beitrag von David Boyle und Stefe Wyler “Us and them: A mindset that failed our communities” ( https://localtrust.org.uk/…/us-and-them-a-mindset-that…/ ).
Es ist dies einer der wenigen Versuche, Musikvermittlung dahingehend zu politisieren, dass ihre Vertreter*innen sich nach der Lektüre nicht mehr damit begnügen können, über die bestehenden gesellschaftlichen Trennungen hinweg punktuell Vergemeinschaftung zu stiften. Sondern sich in einer Gesellschaft zu verorten, in der soziale Trennung politisch, ökonomisch und auch kulturell systematisch inszeniert wird. Um sich auf diese Weise besser einschätzen zu lernen als Teil der Verungleichungsmaschine, und sei es als ein Alibi zur Verteidigung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse, die geradeauf der Trennung von “us” und “them” beruht,
Dabei könnte François Matarasso (und wir mit ihm) über seine sympathisch vorgetragene Verunsicherung bei der Einschätzung der Wirkmächtigkeit der von ihm vorgestellten Projekte hinauswachsen und sie mit einer handfesten Gesellschaftsanalyse unterlegen.
Die vor allem eines zeigt: Es gibt keinen Bereich, der so ungeeignet ist, soziale Ungleichheit zu bekämpfen wie der klassische Musikbetriebs. Er ist Ausdruck davon. Und wir sollten aufhören, in einer gutmeinenden Rhetorik benachteiligte soziale Gruppen darüber zu belügen.