Wimmer’s Comment
Michael Wimmer regularly comments on the latest developments in culture, education and politics in his german commentaries. These are complemented by his own encounters and experiences as a lecturer, author and consultant.
Wenn der Zeitgeist eine “Verbotskultur” kreiert
Jeden Tag neue Meldungen über die Selbstbeschädigung des Kulturbetriebs. Kamen bislang die Forderungen der Eliminierung unliebsamer Literatur und Kunst von außen (Zensur), so übernehmen diese Aufgabe mittlerweile immer mehr Akteur*innen aus den eigenen Reihen (Selbstzensur). Das Ergebnis ist das gleiche: Künstler*innen werden ausgeladen, Museums- Bibliotheksbestände werden gesäubert und Lektürelisten den neuen Machtansprüchen einer “sauberen Kultur” angepasst.
Wenn kulturpolitisch immer wieder argumentiert wird, der Kulturbetrieb sei so etwas wie der Seismograph gesellschaftlicher Entwicklung, dann verheißt das nichts Gutes. Er zeigt uns gerade, dass das liberale Zeitalter zu Ende geht und wir schon mitten in autoritären Verhältnissen angelangt sind.
Ausgestattet mit einer lange eingeübten a-politischen Haltung schwimmt sich‘s offenbar gut auf dieser Welle. Den Anspruch des anti-autoritäten Widerstands, in dem viele Akteur*innen des Kulturbetriebs ursprünglich sozialisiert worden sind, kann ich jedenfalls mit Verboten von Shakespeare, Dickens und ja auch May nicht erkennen.
Offenbar will niemand merken, was es bedeutet, wenn Vertreter*innen einer “Cancel Culture” auf derselben politischen Welle schwimmen wie rechtsradikale Antidemokraten, die für sich beanspruchen, die Stimme des Volkes zu repräsentieren. Und sich auf eine lange Tradition der Kunstvernichtung berufen können.
Kein Zufall, wenn Margaret Atwood jüngst eine feuerfeste Version ihres “Reports der Magd” produzieren ließ.
In diesem neuen kulturellen Wahnsinn kann eine historische Erfahrung aufrechthalten: Es waren immer die diskriminierten künstlerischen Äußerungen, die am Ende wirkungsvoll waren, und damit auch das, was sich gegenüber dem ideologischen Machtanspruch des Zeitgeistes als inkompatibel erwiesen hat. Und so werden wohl auch in dieser Runde die Literatur und die Kunst von Dauer sein, die gerade gecancelt werden soll.
Kunst ist – hoffentlich nicht nur für mich – der Ort, wo mit dem Unmöglichen experimentiert wird, mit dem, was nicht sein kann, was nicht sein darf, was nicht sein soll. Und doch sein könnte, sein dürfte und sein sollte.
Der kulturelle Bildungsauftrag, der sich daraus gibt: Die Neugierde der Menschen nach dem Ungewöhnlichen, dem Unerwarteten, dem Unkonventionellen, dem (Ver-)störenden, dem Verbotenen und dem Unmöglichen wachzuhalten. Und sie zu ermutigen, dazu zu stehen, weil darin findet sich das Leben.
Diejenigen, die heute wieder nach Verboten und Tabus rufen, das sind die Totgeburten.