Wimmer’s Comment
Michael Wimmer regularly comments on the latest developments in culture, education and politics in his german commentaries. These are complemented by his own encounters and experiences as a lecturer, author and consultant.
Zur Lektüre von “Wut und Wertung” von Johannes Franzen
Über Geschmack lässt sich trefflich streiten, und so auch über das Buch des deutschen Literaturhistorikers Johannes Franzen “Wut und Wertung – Warum wir über Geschmack streiten” (
https://www.perlentaucher.de/buch/johannes-franzen/wut-und-wertung.html ).
Nach der Lektüre dieser aktuellen Diagnose des Verhältnisses von Menschen zu Kunst bin ich mir ja nicht mehr so sicher, ob wir noch adäquat in der Lage sind, über Kunst zu streiten, noch schlimmer, ob es dieses von Franzen apostrophiertes “Wir” überhaupt noch gibt.
Dass es unterschiedliche Positionen zur Bedeutung von Kunst im persönlichen Leben gibt, das ist evident. Das Konstatieren eines Streites, noch dazu eines gegenseitig bereichernden darüber, was Kunst für das Leben vermag, das ist möglicherweise selbst nur mehr eine Erinnerung an eine Zeit, in der eine Bildungselite über das rhetorische Rüstzeug verfügt hat, um sich in einem rituellen Akt der gesellschaftlichen Disziplinierung geschmacklich aneinander abzuarbeiten.
Statt dessen macht der Autor einmal mehr deutlich, wie sehr ästhetisch formulierte Äußerungen den Zeitgeist widerspiegeln. So erfahren wir einmal mehr, wie der Aufstieg des Bürgertums ein Konzept von Hochkultur hervorgebracht und durchgesetzt hat, das mit einer weitgehenden Entmachtung des Publikums einher gegangen ist (Mozart hat nochfür die einfachen Leute im
Wirtshaus musiziert). Und dass dieser Suprematieanspruch von ehemaligen Emporkömmlingen in der Diversitätsgesellschaft gerade dabei ist, in sich zusammen zu brechen (dass die klassischen Institutionen der Hochkultur just mit eben den Mitteln der Ausgrenzung nunmehr Integration der vorher systematisch Ausgegrenzten versuchen, gehört für mich immer wieder zu den großen Missverständnissen).
Gelernt aus der Lektüre habe ich vor allem, wie bedrohlich Kultur in den laufenden gesellschaftlichen Transformationsprozessen ist: Ausgestattet mit dem Panzer der Identität setzen sich die Verteidiger*innen gerade nicht dem Streit aus, aus dem sie verändert, vielleicht sogar bereichert heraustreten sondern errichten kulturelle Wagenburgen, die als solche keinerlei Begründung mehr bedürfen.
Als solche repräsentieren unterschiedliche kulturell definierte Fraktionen im ästhetischen Feld genau die unversöhnlichen Positionen, die auchdas aktuelle Politikfeld beherrschen.
Franzen hat wohl recht, wenn er jeder künstlerischen Äußerung politisches Gewicht beimisst (und den Anspruch auf Autonomie der Kunst selbst als Ideologie entlarvt). Um sich doch um die Aussage zu drücken, wie sehr das aktuelle Machtgerangel innerhalb des aktuellen Kulturbetriebs dem herrschenden Trend zur Entdemokratisierung Vorschub leistet.
Die besondere Ironie liegt dabei in den Wirkungen der digitalen Medien. Verkauft als der Hebel zur Mitbestimmung und damit zur Wiederaufwertung des Publikums schlechthin, mutieren diese mittlerweile zur umfassenden Plattform einer Refundamentalisierung, auf der sich unterschiedliche Positionen als einzig mögliche zelebrieren und so unversöhnlich gegenüberstehen.
Wer etwas Neues über die gewandelten Rezeptionsweisen von Kunst entlang großer ästhetisch gefasster Streitthemen erfahren will, der oder die wird nach der Lektüre von “Wut und Wertung” enttäuscht sein. Wer hingegen etwas über die Verfasstheit der Gesellschaft entlang ihrer Widerspiegelung im Kunstbetrieb erfahren möchte, der ist mit Johannes Franzen, wenn auch implizit, gut bedient.